»Was tut ihr da«, stammelte er, »warum tut ihr diesen Greuel? ... Und heute, am geheiligten Tag ... Das Verderben zieht ihr herab ...«
Das Mädchen erforschte Jirmijahs Antlitz mit solcher Freiheit, daß er die Augen niederschlug. Nach dieser Prüfung rief sie:
»Weh, du Langwimpriger ... Bist du einer von den Schnüfflern und Muckern? ... Sollen wieder einmal die Tempelpriester auf Lakisch gehetzt werden? ... Schwestern, hierher!«
Im Nu fühlte sich Jirmijah von atmenden Frauenleibern, Duft und zornigem Gelächter umdrängt. Er wurde wie von einer Woge vorwärtsgerissen und stand endlich vor einem Hochsitz unter dem Laubdach einer Sykomore, auf dem das Weib des Stadtfürsten vom Lakisch thronte, die Erzpriesterin der heimischen Aschera. Diese Frau, trotz ihres hohen Ranges noch jung, hörte auf den Namen Frustra. Sie trug ein hauchzartes, mit silbernen Sternen und goldenen Ähren besticktes Schleiergewand. Jirmijah fiel es auf, daß durch das hochgekämmte, schmuckdurchwirkte Schwarz ihres Haares eine schmale graue Strähne schimmerte. Sie hob eine langgefiederte Hand, an deren Gelenk die Goldreifen klirrten:
»Ein Mann Adonai Elohims also? ...«
Erst nach einem Schweigen gab Jirmijah Antwort:
»Ich hoffe, ein Mann des Herrn zu sein und zu werden ...«
»So möge mich dieser junge Mann Adonai Elohims vernehmen«, begann Frustra mit einem Ton spöttischer Müdigkeit. »Ich glaube nicht, daß du mir etwas Neues verkünden wirst. Was du und deinesgleichen denken, das wissen wir alle nur zu gut. Unbekannt hingegen sind euch unsere Gedanken. Denn alle Eiferer schlagen nur auf ihre eigenen Einbildungen los, dem heiligsten Wesen aber bleiben sie fern ... Wohl uns, daß wir zu Aschera halten! Denn die Himmelskönigin selbst ist ja Friede und Freundlichkeit und die Mutterliebe des großen Herzens. Warum sollen wir von ihrer Mutterliebe abfallen? Wir nehmen Adonai, dem Gott unsrer Väter, nichts fort, wenn wir zu Aschera ehrend emporblicken. Sichtbar geht ihre Macht auf über uns, so sanft, so hell. Er aber geht nicht sichtbar auf uns über. Dafür wird er keifend hörbar im zahnlosen Mund bitterböser und herrschsüchtiger alter Männer ... Du willst mich doch nicht unterbrechen, junger Mann Gottes? ...«
Jirmijah hatte nur einen beklommenen Laut ausgestoßen.
»Es ist gut so«, nickte Frustra befriedigt, »denn mit einer brauchbaren Antwort könntest du mich gar nicht unterbrechen. Lerne darum du von uns! Lebt irgendein Same durch sich selbst fort? Nein, er stirbt ab, wenn er kein Ei findet, in das er eingeht. Macht nicht die Nacht den Tag erst zum Tage, die Dunkelheit das Licht erst zum Licht? Wie könnte Adonai, der göttliche Mann, walten, ergänzte ihn Aschera nicht, das göttliche Weib? Sie erhört die heimlichsten Bitten der Frauen. Sie bildet die Milch in den Brüsten, damit die Säuglinge der Menschen und Tiere nicht verschmachten. Und sie bildet noch eine süßere Milch in unsern gar oft traurigen Herzen, die wir da nennen ›den Trost der Sternenherrin‹ ... Nun aber will ich hören, ob du mir etwas Neues zu künden hast, junger Mann Gottes? ...«
War jetzt die Zeit nicht gekommen, daß der Herr ihm die schwere Zunge löse? Jirmijah hob mit gerunzelter Stirne den Kopf und lauschte. Nichts! Noch war die Zeit nicht gekommen. Und er sagte:
»Was du da tust und redest, Herrin, mit schönen Reden, ist Greuel. Laß davon und brich ab dieses Fest ... Denn keines schlimmeren Greuels wegen ist Israels Volk von Ephraim bis Dan vernichtet worden ...«
Jirmijahs Wort und nicht Gottes Wort! Gesagt und nicht gekündet! Die Weiber in der Runde, die wenig davon verstanden, murrten nicht einmal. Die Fürstin aber hatte ruhig ihre spitzigen Knie betrachtet, die unter dem Schleierkleid hervortraten. Nun schüttelte sie enttäuscht den Kopf:
»Deine müßige Rede wird Ascheras Fest nicht stören, sondern fördern ... Willst du aber meinen Rat, so suche dir eine Gespielin, damit sie dich in der Himmelskönigin seliges Wesen einweihe ...«
Frustra gab ein Zeichen, den unterbrochenen Lichterreigen fortzusetzen. Baruch hielt es für geraten, noch in selbiger Nacht die Stadt mit Jirmijah zu verlassen.
Sie wandten sich nordwärts, indem sie das Hochland und Jerusalem in weiter Ferne zur Seite ließen. Die Städte und Landschaften von Socho, Jarmuth, Timna, Bet Schemen und Zora öffneten sich ihnen, mit ihren starken Burgen. Da sie schon bald nach Lakisch ihren letzten Schekel verbraucht und die Gastgeschenke des Fürsten von Libna verzehrt hatten, suchte Baruch in den Städten und Dörfern allerlei Arbeit, von der er jetzt freilich seinen Meister nicht mehr fernzuhalten vermochte. Nun ermaß Jirmijah mit Leib und Seele, wie herrlich das Angebot war, das der Gott des Himmels und der Erde seinem Volke gemacht hatte und mit welcher Niedertracht dieses Volk das herrliche Angebot mißachtete und ausschlug. Israel hätte nichts andres zu tun gehabt, als die Grundgesetze der göttlichen Lehre zu befolgen, und sein Reich wäre für alle Zeiten fest gegründet gewesen. In der Lehre stand geschrieben: »Bezahle deinen Arbeiter noch bevor die Sonne untergeht, damit seine Seele nach dem Lohn nicht verschmachte.« Wie oft mußte Jirmijah es jetzt selbst erfahren, daß ihm sein Arbeitsherr den Lohn nicht vor Sonnenuntergang ausbezahlte und nach Sonnenaufgang vom Ausbedungenen etwelches abzwackte. Es stand in Gottes Angebot an Israel geschrieben: »Wenn sich dir ein Bruder, Mann oder Weib, als Leibeigener verkauft, so soll er dir sechs Jahre lang dienen. Im siebenten Jahre aber entlasse ihn frei von dir. Und wenn du ihn frei entließest von dir, so möge er nicht leer ausgehen. Denn mitgeben sollst du ihm von deinen Schafen, deiner Tenne und deiner Kelter, womit dich gesegnet der Herr, dein Gott, davon sollst du ihm Anteil geben. Gedenke, daß du selbst ein Sklave warst im Lande Ägypten und der Herr, dein Gott, hat dich erlöst ...« Dieses stand in der wiedergefundenen Lehre geschrieben. Jirmijah aber sah mit eigenen Augen, daß nirgends im Lande ein Besitzer lebte, der nach sechs Jahren seine Hörigen freiließ, außer sie waren alt, gebrechlich und siech. Mit brennender Scham vergegenwärtigte sich Jirmijah, daß sein eigener ehrwürdiger Vater, ein Priester Gottes, um kein Haar besser handelte als alle andern Besitzer im Lande. Immer wieder kam ein Jobeljahr, der Sabbath der Jahrwoche, und auf dem Hügel von Anathot wurde keinem der Hörigen Freilaß, keinem der verbraucht Scheidenden Anteil geschenkt. Er selbst hatte als Knabe einst die Frage daheim gestellt, warum von den Geboten gerade dieses nicht gehalten werde. Der Vater war auf diese Frage verstummt. Obadjah hatte sie mit mürrischen Worten abgetan: In schweren Zeiten möge jeglicher froh sein, wenn er Brot und Dach habe. Joel aber, um feinere Gründe bemüht, hatte auf das Ausland hingewiesen: Was würden die Großen Ägyptens, Assurs und Babels dazu sagen, wenn das kleine Jehuda durch dergleichen Wohltaten die Sklaven der Nachbarschaft begehrlich machte? Waren diese Antworten schon für den Knaben nicht überzeugend, heute, da er sah und hörte, heute erbitterten sie ihn. Unruhe kam über sein Herz, das sich in eine große Schuld mitverstrickt fühlte.
Doch dies war noch lange nicht alles. Stand nicht auch in der Lehre geschrieben: »Wenn unter dir ein Dürftiger sein wird, irgendeiner deiner Brüder, in den Städten des Landes, das der Herr, dein Gott, dir gibt, so verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor dem dürftigen Bruder.« Jirmijah aber sah auf seinen Wanderungen von Stadt zu Stadt, daß mit diesem Liebesgebote, gerade weil es nicht sehr schwer zu erfüllen war, der schlimmste Frevel getrieben wurde. Auch hier verkehrte der Mensch in seiner widerlichen Arglist Gottes reines Angebot ins Gegenteil. Die Armut nämlich war zu einem Gewerbe geworden, und das Wohltun zu einer Prahlerei.
Nicht anders als den wahrhaft Armen erging es den Landfremden, den Witwen und Waisen, kurz allen, über die das Gesetz des Herrn die schützende Hand hielt. Nicht blieb auf den abgeernteten Äckern ein Teil der Fechsung liegen als heilige Steuer für die Schamhaften, die in ihrer Verlorenheit alle Ruth glichen, der hohen Ährenleserin. Hatte aber irgendwo ein »sehr Frommer« dem Gebote entsprochen, so lag ein Armvoll ausgeraufter Feldfrucht auf dem Markstein, zu schlecht für das Vieh. Und dies war schlimmer als nichts, denn wiederum verdarb damit einer das Reine ins Unreine.
Читать дальше