Langsam von Ort zu Ort wandernd, hatten Jirmijah und Baruch in hundert Begegnungen und Gesprächen, in Hof und Haus, mit Arbeit und Muße sich vollgesogen an dem Wirklichen, das heißt dem Niedrigen und Abgekehrten, das die Menschen beherrschte. Jirmijah aber beschloß, noch nicht nach Jerusalem zurückzukehren, sondern in das alte Nordreich der weggeführten zehn Stämme Israels vorzudringen. Ein sehnsüchtige, mit Grauen vermischte Neugier hatte ihn gepackt, Zebaoths Fluch- und Vernichtungswerk an Ort und Stelle zu erblicken. Für die Stämme Ephraim und Manasse trug Jirmijah seit je ein kindliches Mitleiden im Herzen, waren sie doch Brudersöhne Benjamins, in dessen Land er daheim war. Nun aber erkannte er erst, wie hart Zebaoth an Ephraim und Manasse sein Urteil vollzogen hatte. Trotz Tod und Verschleppung von Tausenden Vaterhäusern war das dortige Volk Israels nicht abhanden gekommen, es hatte sogar in den letzten Geschlechtern seine Zahl vermehrt. Ephraim und Manasse führten ein Leben, aber es war das Leben der Unterwelt, des Scheol, ein Leben geheimnisvoller Verwahrlosung.
Ephraim lebte noch immer mit dem Rücken zum Tempel und auch jetzt noch fiel es ihm nicht ein, sich umzukehren. Es unternahm keinen Versuch mehr, sich am Herrn aufzurichten, sondern streckte seine Glieder aus, dem Fluche dumpf hingegeben. Israels Züge lebten noch in diesen Gesichtern. Sie waren aber gleichgültig, entstellt und durch viele Zumischungen verwischt. Die verlorenen Stämme waren da, ohne dazusein. Mit pressender Beklemmung in der Brust ahnte Jirmijah: Wenn die letzte Frist des göttlichen Zuwartens abgelaufen ist, dann wird dieses auch die Zukunft Jehudas sein, wenn nicht abscheulicher noch und trauriger und scheolmäßiger.
Und als Baruch und er nach rascher Wanderung endlich auf den mächtigen Trümmern von Samaria standen, da drückte ihn diese Beklemmung vollends zu Boden. Dies also war die Hauptstadt des Reiches Israel, die sich an Glanz mit Babel, Noph und Niniveh messen wollte. Der Königspalast Jerobeams und manch andrer Prunkbau stand zum Teil noch aufrecht. Doch je unversehrter ein Gebäude schien, um so größer war das Entsetzen der Leere, das es verbreitete. Samaria war verlassen, nicht nur von den Menschen, sondern in schrecklicher Strenge gottverlassen, von Gott verlassen. Adonais Nachfolger waren Schakale, wilde Hunde, Schlangen und Skorpione, die jeden Schritt bedrohten. Jirmijah, der auf einem Steinblock saß, hatte längst nicht mehr Samarias Ruinen vor Augen. Er sah Jerusalem brennen. Er blickte auf den Trümmerhaufen des Tempels. Sein Zwerchfell zitterte. Wie lange noch? Er dachte an Urijahs Worte: Warte, und wenn du bis zu deiner Todesstunde warten müßtest. Er war bereit zu warten. Doch seine Seele stöhnte zum Herrn: Worauf wartest du ?
Adonai schwieg. Ein wilde Fluchtbegier erfaßte Jirmijah, die Stätte der Verwerfung zu verlassen und auf dem schnellsten Wege Jerusalem zu erreichen. Sie brachen sogleich auf. In Kirjat Jearim aber, knapp vor den Toren der Hauptstadt, mußte Jirmijah noch ein Bild des Abfalls sehen, das alles, was er auf seiner Wanderschaft an Wirklichem in sich gesaugt hatte, weit übertraf.
Am Eingang dieser Ortschaft erhob sich ein stattliches Haus, in dessen Tor ein nicht minder stattlicher Mann stand, der, seine Augen beschirmend, auf die Straße hinaussah und späte Wanderer eigens zu erwarten schien. Der Anblick der beiden müde herantrabenden jungen Männer schien ihn mit Freude zu erfüllen, obwohl oder gerade weil ihr Kleid und Schuhwerk nach so langer Reisezeit einen herabgekommenen Eindruck machte. Die scharfen Augen des Stattlichen, der immerfort seinen wohlgepflegten welligen Weißbart liebkoste, erkannten sofort, daß es sich nicht um gewöhnliche Landstreicher oder Umhertreibende handelte, sondern um gebildete Jünglinge, die vielleicht im Herrn Erfahrungen sammelten oder sich eines Gelübdes wegen auf entsagungsreicher Wanderung befanden. Welch eine Gelegenheit, durch Bewirtung solcher Männer sich ein Verdienst zu erwerben! Der Stattliche ließ Jirmijah und Baruch nicht weiterziehen, obgleich Jerusalem nur mehr eine Wegstunde entfernt war. Mit väterlicher Freundlichkeit lud er sie in sein Haus. Dort erhielten sie eine wohlausgestattete Kammer mit schwellenden Ruhelagern. Sie wurden in einen prächtigen Baderaum geführt, der nach warmem, wohlriechendem Wasser und ausgesuchten Spezereien duftete. Diener bemühten sich um die Badenden. Ihre Leiber wurden gewaschen, mit rauhen Tüchern abgerieben, gesalbt und geknetet. Man schor ihnen Haar und Bart. Die Wunden, die ihnen der lange Marsch an Beinen und Füßen zugefügt hatte, wurden sorfältig mit allerlei Balsaminen gepflegt. Zuletzt erhielten sie noch frische Leibröcke und Sandalen. Als sie dann bei der Abendmahlzeit am Tische ihres reichen Gastgebers saßen, fühlten sie sich knabenhaft erfrischt und neugeboren. Jirmijah pries in seinem Herzen die Güte des alten Mannes, obwohl ihn die Gebärde leise störte, mit welcher er seinen weißwelligen Schönbart zärtlich befingerte. Selten aber hatte man einen Landwirt oder Besitzer ohne Priesterrang gesehen, der so tief eingeweiht in die Lehre war, der dem Gottgespräch so überraschende Wendungen zu geben wußte und bis lang nach Mitternacht mit geziemendem Ausdruck und würdiger Zerknirschung neue Gebete zum besten gab. Der stattliche Gottesschmeichler hieß Meschullam, Sohn Malluchs. Seit den siebzig Sabbathen ihres Wanderweges hatten Jirmijah und Baruch nicht so gut geschlafen wie in dieser Nacht und auf den prächtigen Mittahs Meschullams.
Im Morgengrauen weckte sie das traurigste aller Chorlieder, das den drohenden Untergang Israels zu beklagen schien. Die beiden Schläfer sprangen auf und verließen das Haus, um diesem herzwürgenden Gesange und seinen Urhebern nachzuforschen. Hinter Meschullams Herrenhaus dehnte sich ein weiter verbrannter Anger, und in diesen Anger waren zwölf Deichselmühlen eingelassen, wie sie seit Urzeiten im Lande Jehuda in Gebrauch standen. Ein fest gemauerter, unbeweglicher Mühlstein unten und darüber nicht minder wuchtig, ein beweglicher oberer Mühlstein, der um eine Nabe läuft, und von einer langen Deichsel in Betrieb gesetzt wird. Zumeist wurden an diese Mühldeichseln Rinder gespannt, die den ganzen Tag lang im Kreise trotteten. Jirmijah und Baruch aber sahen an den zwölf Deichseln keine Rinder, sondern Männer, nackte, schweißglänzende Riesengestalten, zwölfmal das Bild Simsons, des Gewaltigen. Als sie aber näher hinsahen, da zeigte es sich, daß sie im wahren Sinne simsonhafte Riesen erblickt hatten, denn alle zwölf Deichselsklaven, die ihr trauriges Geheul zum Morgenhimmel erhoben, waren blind. Im Innersten betroffen, rief Baruch den Blinden schaudernd zu:
»Wer seid ihr und wem gehört ihr an?«
Die zwölf Simson-Riesen hielten gleichzeitig in der Arbeit und im Gesang inne. Mit stierhafter Langsamkeit wandten sich der fragenden Stimme zwölf Köpfe zu. Es waren die Köpfe durchwegs alter Arbeitssklaven. Wund und von Fliegen umsurrt, stierten vierundzwanzig leere Augenhöhlen. Die Hörigen gaben im Chor Antwort:
»Wir gehören Meschullam, dem Müller, zum Eigentum ...«
Baruch schrie jetzt seine Frage fast, als müsse man diese leeren Augenhöhlen mit übergroßer Deutlichkeit ansprechen:
»Und seid ihr alle blind geboren?«
In die zwölf Riesen kam eine sonderbare Tanzbewegung. Sie wiegten und wanden sich hin und her, ehe es aus ihnen herausheulte:
»Wir sind nicht blind geboren. Als wir noch jung waren, hat uns Meschullam, der Müller, geblendet, mit Feuer und Eisen, mit Eisen und Feuer.«
»Sie sprechen wahr ...«
Die würdige Stimme Meschullams sagte diese Worte. Der fürsorgliche Wirt, dessen Wellenbart nachtsüber nicht in Unordnung geraten war, hatte die Gäste gesucht und gefunden. Mit seiner winzig weißen und sanften Hand wies er auf die Blinden:
Читать дальше