Jirmijah stand auf einer der südlichen, den Königspalästen zugewandten Kanzeln. Er wußte nicht, wie er hier heraufgekommen war. Nachdem er aber seine gewaltige Scheu niedergekämpft hatte, um dem Herrn zu gehorchen, war er plötzlich wieder so ruhig wie damals, als er im Angesichte des Königs aus der Lehre vorlesen mußte. Sein Herz schlug fest und ohne Eile. Das kam daher, daß er Adonais in dieser Stunde wundersam gewiß war. Er mußte nur die Augen schließen, um des Herrn so reich inne zu sein wie nie. Eines aber tat not. Nicht er durfte erregt nach Worten suchen, nicht er um den Ausdruck der eigenen Gedanken ringen. Seine Aufgabe war es, dem Herrn wie im Schlafe zu vertrauen, seinen eigenen Lebens- und Denkgeist auszuscheiden und seine Sinne fast bis an die Todesgrenze von sich selbst zu entleeren. Plötzlich schallte ihm zur eigenen Überraschung der übliche achtungheischende Ruf der Künder aus seinem Mund:
»Ein Wort des Herrn ... Hört einen Spruch des Herrn!«
Etwas in ihm erschrak über diese donnernde und bannende Stimme, die ihm unbekannt war und nichts mehr mit dem wirklichen Jirmijah, dem ständigen Gesellen seines Lebens, zu tun zu haben schien:
»Höret, höret das Wort ... Denn also spricht der Herr zu euch ...«
Die Stimme wirkte. Lärm und Bewegung stockten. Selbst das Schrittgeräusch hinter seinem Rücken setzte aus. Diese dauerte freilich nur einen Augenblick, denn sogleich rauschte die Menge wieder auf, und nur ein Häuflein von Neugierigen blieb unter der Kanzel stehen, um einen Unbekannten anzuhören. Mit bedrohlichem Zutrauen wandten sich ihm die Blicke spottbereiter Kenner zu. Jirmijah vernahm abfällige Bemerkungen. Einige hielten sich darüber auf, daß er im bürgerlichen Feiertagskleide erschienen war und nicht, wie es sich für einen rauhen Gottessprecher geziemte, im härenen Gewande, das heißt in einem haarigen Mantel aus ungegerbtem Tierfell. Jirmijahs Augen und Ohren unterschieden mit größter Deutlichkeit alles, was sich vor ihnen begab. Doch nichts konnte ihn stören und verwirren. Denn in seinem Geiste begannen sich die Worte des Herrn zu sammeln wie Wassertropfen im durchlässigen Gestein. Eine hohe Leichtigkeit durchschwang ihn. Und zum erstenmal im Leben erfuhr er, wie die ihm einwohnende Stimme sich ablöste und über die Menschen Herrschaft übte.
»Also spricht der Herr ... Ich gedenke in meiner Liebe deiner Liebe, da du ein freundlich junges Ding warst und eine liebliche Braut und mir folgtest in die Wüste, in das Land, wo man nicht sät ... Damals warst du, mein Israel, mir heilig und eigen. Du warst mir wie eine Erstlingsfrucht. Hätte einer zehren wollen von dir, der hätte es gebüßt ...«
Schon war das Häuflein der Zuhörer auf mehr als hundert Köpfe angewachsen. Welch eine neue Stimme! Ihresgleichen hatte man schon lange nicht gehört. Sie warb nicht eifernd um Gehör, sondern erfüllte es rund und ruhevoll. Doch auch die streichelnde Milde des wohlgedichteten Bildes lockte. Gewiß, das Gleichnis von dem holden jungen Ding, das dem kraftstrotzenden Bräutigam in die Wüste folgt, war nicht neu. Die gewiegten Kenner wußten, daß Adonai dasselbe Gleichnis durch den Mund gar manchen alten Künders verwendet hatte. Doch man hörte und sah es immer wieder gerne vor sich, jenes bräutlich geschmückte Mädchen, das man im Herzen des Herrn einmal selbst gewesen. Ein Ruf der Zustimmung erklang. Jirmijah aber hatte die Augen geschlossen. Nicht seine Seelengedanken, das eingeraunte Wort strömte ihm rein von den Lippen:
»Ein Spruch des Herrn: Was hab ich dir getan? Welches Unrecht haben deine Väter an mir gefunden, daß sie den Nichtsen nachgingen und betört wurden? ... Sie fragten nicht mehr, wo ist der Herr, der uns hinausgeführt aus Ägyptenland, der uns durch die Wüste geleitet, durch ein Land der Steppe und Wildnis, durch ein Land der Dürre und Todesstille, durch ein Land, das nie einer durchzogen hat und wo kein Mensch wohnt ... Ich brachte euch doch in den fruchtbaren Garten am Karmel, daß ihr seine Frucht esset und seinen Überfluß genießet. Da aber kamt ihr und habt mein Land verunreinigt und mein Erbe zum Greuel gemacht ...«
Jirmijah brach ab. Die Heftigkeit der letzten Worte verschlug ihm den Atem. Sooft ihn auf seiner Wanderschaft im Angesicht der tausend Verkehrungen der heilige Grimm übermannt hatte, sein offener Tadel war niemals zügellos geworden. Hatte ihn nicht sein Vater gelehrt, der vornehme Mann habe unter allen Umständen die nackte Benennung zu vermeiden und stets den beschönigenden Ausdruck zu wählen? Nun aber war sein Mund zu den nacktesten Vorwürfen gezwungen, und dieses gar an der Stätte seiner kindlichen Ehrfurcht und seines liebenden Schauders, seitdem er denken konnte! Abgründige Totenstille herrschte ringsum. Obgleich Jirmijah die Augen geschlossen hielt, so fühlte er, daß es sich immer dichter zu seinen Füßen sammelte. »Höret, höret ein Wort des Herrn ...« Noch einmal rief er es, als wollte er sich feige hinter dem eigentlichen Redner verstecken und ihm alle Schuld zuschieben:
»Mein Volk hat seine hohe Herrlichkeit verschleudert für Dreck! Darob erstaunt der Himmel wohl. Und er verwölkt und verdüstert sich sehr ... Spruch Adonais: ... Mich verstieß mein Volk. Vom Quell des lebendigen Wassers kehrt es sich ab und säuft aus Pfützen, Tümpeln, geborstenen Gruben ... Weh, von jeher, Volk, zerbrachst du das gute Joch und die milden Bande. Die Wahrheit siehst du nicht und willst ihr nicht dienen ... Einst habe ich dich als edelste Rebe gepflanzt, aus echtem kostbarem Samen. Du süßer Weinstock, wie bist du mir mißraten zu bitterm wertlosem Wildwuchs! ... Willst du dich reinwaschen, Volk?! Und wenn du auch Aschensalz nimmst und schärfste Lauge und reibst und scheuerst, der Schuldfleck auf deinen Händen wird immer schmutziger vor mir ...«
Die Totenstille hatte sich in eine murrende Brandung verwandelt. Was war das? Aus diesem kurzbärtigen Milchschnabel tönte ja eine regelrechte Straf rede Zebaoths, wie man sie seit Menschengedenken kaum mehr vernommen hatte. Sollte man wirklich annehmen, daß der Herr sich keines gesetzteren Mannes zu solcher Kündung bediente? Unerhörtes nahm sich die Jugend dieser Tage heraus. Dachte man an einen ergrauten Bußkünder, wie es der narbenbedeckte Urijah war, so mußte jedermann zugeben, daß dieser sich seit seinen schlimmen Erfahrungen einer lobenswürdigen Zurückhaltung im Ausdruck befleißigte, anders als der dreiste Neuling dort. Und die Großen der alten Zeit? Ein Jesajah war drei Jahre lang nackt durch die Straßen von Jerusalem gewandelt, um sich selbst für die Bitterworte zu strafen; die ihm Adonai auferlegt hatte. Und derselbe Jesajah pflegte nach harter Rede immer wieder zu heischen: »Tröstet, tröstet mein Volk ...« Was bedeutete überhaupt der Schuldfleck auf den Händen, der durch kein Aschensalz und keine Lauge weggescheuert werden konnte? Hatte das gegenwärtige Geschlecht nicht die Lehre wiedergefunden? Hatte König Josijah nicht einen neuen Bund mit Zebaoth an der Schwursäule gestiftet und in Erfüllung dieses Bundes das ganze Land vom Fremddienst gesäubert? Waren die Gebote der Lehre nicht zum Grundgesetz des Reiches erhoben worden? Was noch? Die Forderungen des Herrn waren vollauf befriedigt, das Gedeihen des Weltlaufs bewies es. Die Worte dieses Menschen aber waren nicht die Worte des Herrn, sondern die strafheischende Frechheit eines Unreifen, der vor den hochwürdigen Persönlichkeiten des Tempels und den ehrbaren Männern Jerusalems aufzufallen wünschte. Schon brachen laute Hohnrufe und Drohungen aus dem allgemeinen Unmut. Jirmijah aber hörte nichts mehr. Seine Sinne schmolzen hinweg in dem Feueropfer des Wortes, zu dem er geworden war:
»Streifet umher in den Städten Jehudas und auf den Straßen Jerusalems und sehet doch zu und erkundet auf allen Plätzen, ob ihr einen Menschen findet, einen einzigen nur, der recht tut und Wahrheit suchet, und ich will verzeihen. Aber wie soll ich verzeihen? ... Entsetzliches und Schauderhaftes geschieht im Lande ... Wort Gottes ... Frevler gehen unter meinem Volke um, überall. Wie die Vogelsteller ihre Fallen legen, so lauern sie und werfen ihre Schlingen aus, um Menschen zu fangen. Wie ein Vogelbauer voll Vögel, so ist ihr Haus voll Sünden. Davon aber werden sie groß und reich. Ja, sie werden feist und hart und freuen sich des Bösen. Sie beugen das Recht. Die Sache der Waise führen sie nicht und sie berauben die Armen ...«
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