Mit eindringlicher Milde wandte sich Vater Hilkijah an Jirmijah:
»Siehe, mein Jüngster, ich kenne so manche, die dasselbe von sich behaupten, was du selbst zu deiner Mutter behauptet hast ... Es sind zumeist Männer mit wirren Haaren und wilden Barten, über die kein Schermesser, doch auch kein Kamm kommt ... In rauhe Mäntel kleiden sie sich, nur um aufzufallen und von sich reden zu machen ... Sie mischen sich mit geifernder Stimme in die Geschäfte des Königs und seiner Fürsten; das Volk aber wiegeln sie mit ihren Weissagungen auf ... Und was helfen alle Weissagungen? ... Ehe sie eintreffen, bessern sie nichts, und sind sie eingetroffen, nützen sie niemandem ... Willst du diesen Männern gleichen?«
»Nein, diesen Männern will ich nicht gleichen«, flüsterte Jirmijah gequält und senkte den Kopf. Es war ihm bisher der Gedanke noch nicht gekommen, daß auch aus ihm eine von diesen widrigen Gestalten werden könnte, die im Lande umherzogen, Menschen um sich versammelten und mit schäumendem Wort auf sie einhieben. Er schauderte jetzt vor diesem Bilde zurück. Von Hilkijahs Haupt aber war das weiße Tuch zurückgerutscht, so daß sich die bleiche Stirn und der schmale Greisenschädel unbedeckt emportürmten. Noch niemals war dem Sohne sein unzufriedener Vater so ehrwürdig erschienen wie jetzt. Noch niemals hatte er mit seinem eigenen Wesen den väterlichen Worten so restlos zugestimmt.
»Vernimm, Jirmejahu«, hob Hilkijah an, »es ist nichts Geringes, in einem Geschlecht zu stehn, das bis in die Vorzeit zurückwandelt ... Dort in der Truhe liegen die Tafeln, in denen die Väter dieses Vaterhauses eingezeichnet sind, Vater vor Vater, bis hinauf zu Aaron, priesterlich alle ... Priester wahren die Ordnung des Herrn, ohne abzuweichen ... Von deinen Brüdern rede ich nicht, ihre Gedanken sind nicht meine Gedanken ... Doch ich, ich selbst, dein Vater, meinst du nicht, ich hätte hervortreten können aus dem Dunkel in meinen Tagen? ... Ich tat es nicht, der Herr weiß warum ... Und jetzt kommst du, Jüngster, mit Gesichten und Stimmen und Gottworten? ... Der Herr kann mit Gesichten und Stimmen aus seiner eigenen Ordnung treten, wenn es ihm beliebt ... Du aber nicht ... Du kannst den Tollen und Eifernden nicht gleichen, denn ein Priester bist du ... Glaubst du nicht also, Jüngster?«
»Ich glaube also, Vater«, sagte Jirmijah, ohne den Kopf zu heben.
Hilkijah führte erschöpft den großen silbernen Geschlechtsbecher, der vor ihm stand, an die Lippen, um seine gereizte Kehle zu laben. Dann atmete er auf:
»Es ist sehr gut, daß du also glaubst ... Mögen wir doch davon nie wieder reden müssen ...«
Ein langer Blick Jirmijahs traf den Vater:
»Wenn ich auch also glaube, so steht es doch nicht bei mir ...«
»Was steht nicht bei ihm?? ... Und bei wem steht es??«
Diese Frage hatte mit lauerndem Knurren Obadjah gestellt. Der jüngste Sohn aber wandte seine Augen nicht vom Vater:
»Nicht ich entscheide ... Sondern der entscheidet, welcher mich aussendet ...«
»Da hört und habt ihr es!« schrie Obadjah außer sich und hieb seine Pranke auf den Tisch, »das ist schon das Gerede der Tollfrechen, wie man es kennt ... Hat er nicht alles, was er braucht? ... Wird nicht gesorgt für ihn, der keinen Finger rührt? ... Wahrlich, sein Anteil liegt nicht brach ...«
Die Mutter winkte dem ältesten Sohne verzweifelt ab, auf Hilkijah weisend:
»Der Vater ist noch nicht zu Ende mit seinem Wort ... Treffliches hat er ersonnen ...«
Hilkijah räusperte sich schwer, ein müder Mann, der langen Reden nicht mehr gewachsen ist:
»Jüngster, ich will für dich tun, was ich für meine andern Söhne nicht getan habe ... Ihr Sinn freilich taugte auch nicht dazu ... Ich, der ich schon sehr alt und krank bin, ich werde meinen Leib martern, ihn auf die Eselin setzen und hinaufreiten nach Jerusalem ... Ich, der ich kein Ungemach und keine fremde Schlafstatt mehr ertrage, ich werde Herberge nehmen in der Stadt ... Ich, der ich von den Großen nie etwas erbeten habe, ich werde mich bücken und bittlich werden für dich ... Du hast Ehrendienst im Tempel getan und vor den Ohren des Königs das Wort gelesen ... Im Tempel aber walten die Söhne Zaddoks, der Ebijathars bitterer Feind war .. In dir will ich Versöhnung anbieten zwischen Ebijathar und Zaddok nach vielen Menschenaltern und bitten, daß mein Jüngster in die höchste der Ordnungen aufgenommen werde ...«
Wer Hilkijah kannte, seinen unbefriedigten Stammesstolz, seine Verachtung der Gegenwart, seine verbissene Eigensucht, seine bittere Unlust, Beschwerden zu tragen, ja sich nur einige Schritte vom Hause zu entfernen, der mochte über die wahrhaft väterliche Großmut und Selbstüberwindung dieses Anerbietens nicht wenig erstaunt sein. Die älteren Brüder saßen starr und bleich vor Eifersucht. Sie, die sich für Größe und Wohlstand des Hauses ruhelos abmühten, sie kränkte der Vater mit jedem Wort. Den Nichtstuer und Nichtsnutz aber erhob er über sein eigenes hochbewußtes Selbst. Mutter Abi machte beschwörende Gebärden zu Jirmijah hin, er möge den günstigen Augenblick wahrnehmen und nichts verderben. War es nicht ihr stiller Wunsch seit je, daß ihr Lieblingskind geistlich sei, nicht nur dem Stamme, sondern auch dem Amte nach? In dem Aufleuchten ihrer Mutteraugen konnte Jirmijah jetzt seinen eigenen Aufstieg lesen, von Rang zu Rang bis zum Hohenpriestertum eines neuen Ebijathar. Gab es einen herrlicheren Beruf, als dem Herrn offen zu dienen in der Schar seiner erprobten Diener? Dies einzig war nach dem Wahrwort des Vaters einem Priestersohne angemessen, das Unbekannte, Ungeordnete, das große Andre widersprach ihm. Welche Sehnsucht in seinen drängenden Gedanken, das Anerbieten des Vaters anzunehmen, den Wunsch der Mutter zu erfüllen. Doch die Worte, die er sprach, gehorchten diesen Gedanken nicht:
»Mein Vater bleibe in Ruhe daheim ... Denn nicht darf ich als Priester im Tempel dienen ...«
Jetzt fuhren alle auf. Obadjah schlug ein Hohngelächter an, in das der Erzbettier einstimmte. Doch selbst für den vermittelnden Geist Joels, der Streit und Lärm nicht liebte, war diese Zurückweisung der unerhörten Väterlichkeit zu viel. Er packte Jirmijah bei beiden Armen und schüttelte ihn:
»Du Rasender und Verrückter ... Nun sprich endlich, was dein Wunsch ist?!«
Jirmijah befreite sich, stand wie in Traum gehüllt, schloß die Augen, als lausche er einem Einflüsterer. Seine Lippen zuckten leer. Endlich entrang es sich seiner verengten Kehle:
»Mein Wunsch ist, ... daß ihr meiner nicht mehr gedenken möget ...«
Für die erste Nacht nach der Festwoche hatte Jirmijah seinen heimlichen Abschied vom Vaterhause angesetzt. Eine bittere Feierzeit war das gewesen. Der Vater hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Seine Brüder begegneten ihm mit offenem Hohn. Ja selbst die Bruderkinder liefen vor ihm mit abscheulichem Kichern davon wie vor einem Gezeichneten. Er war ein Gezeichneter in seiner Sippe. Durch den Besuch des Herrn! Was sie ihm vorwarfen, freilich, das konnte er nicht ergründen. Überhebung, Absonderung, Narrheit?! Was half das alles? Es war einmal so, blieb der wirkliche Grund auch verborgen.
Endlich brach die Nacht des heimlichen Abschieds an. Alles war vorbereitet. Baruch wartete mit den Eselinnen an der schadhaften Stelle in der Umfassungsmauer. Jirmijah aber zögerte noch immer. Sein Herz war nicht zu Kampf und Streit geboren. Deshalb hatte er sich ja entschlossen, das Haus in aller Stille zu verlassen. Nicht einmal für den Herrn wollte er die Schuld auf sich nehmen, an seinem Vater ungehorsame Härte zu üben. Warum nur war der Herr gerade auf ihn verfallen, der so leicht litt, der so wenig Kraft besaß, Schmerz zu erregen und zu ertragen? Hatte er nicht härtere, kältere, stärkere Seelen in diesem Volke für sein Vorhaben zu finden gewußt?
Er stand noch immer in seiner Knabenkammer. Durchs Fenster wanderte sein Blick den alten Weg gen Norden, wo sternlose Mitternacht herrschte und nichts zu unterscheiden war, nicht einmal der Umriß des verfallenen Weihtums. Mit einem Seufzer riß er sich von dem Fensterblick seines bisherigen Lebens los. Dann füllte sein lautloser Schritt den nächtlichen Mittelgang des Hauses, wie so oft. Jetzt aber kehrte er nicht heim, sondern ging fort, das Bindende für immer zu meiden. Vor dem Elterngemach hielt er an und horchte. Auch seiner Mutter hatte er nichts von diesem Entschluß gesagt. Da war's ihm plötzlich daß für Abi, der von ihm nichts verborgen blieb, auch sein heimlicher Abschied nicht verborgen geblieben war. Kaum hatte er dies gedacht, als ihn schmächtige Arme umfingen. Aus der Dunkelheit erzeugt, stand Abis kleine Gestalt, nicht sichtbar, nur fühlbar, vor ihm.
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