Die anderen beiden sahen stumm zu und wunderten sich, wie mühelos, wie beiläufig ihnen das gelang. Doch dann ließen sie sich nicht lange bitten. Zu viert schlichen sie von Hecke zu Hecke, von Mauer zu Mauer, in einem großen Bogen um die brennende Scheune und schreienden Menschen herum, und machten nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.
Bis sie plötzlich eine regungslose Gestalt durch den Rauch erblickten. Kjell zögerte nicht. »Ich den Kopf, du das Herz, Bjarne, du den Bauch, Phorsteinn, und du, Hjordis, dorthin, wo er fällt.« Sie legten alle gleichzeitig an. Kjell holte tief Luft. »Jetzt!!«
Der Ragai besaß einen unglaublichen Instinkt. Blitzschnell tauchte er ab, entkam Kjells Pfeil und ebenso Bjarnes, und Phorsteinns prallte an seinem Schwertgurt ab. Aber Hjordis, sie traf, weil sie einen winzigen Moment länger gewartet hatte. Ein meisterhafter Schuss. Der Pfeil saß mitten in seiner Stirn.
»Sauberer Schuss!«, rief Phorsteinn und schlug ihr auf die Schulter, was sie mit einem bösen Blick quittierte.
Kjell beachtete ihr Geplänkel nicht. Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis die Ethenier entdecken würden, dass sie angegriffen wurden. Blitzschnell warf er seine Strategie um. Er sah zu den Gebäuden, prüfte die Windrichtung, die wuselnden Schatten der Feinde und hörte die Schreie der Frauen und Kinder. Sie waren das Wichtigste.
»Hjordis, geh rauf auf den Verschlag dort und nimm unsere Bogen und Köcher mit. Du wirst uns den Rücken frei halten. Schieß alles ab, was uns zu nahe kommt. Wir drei kämpfen uns durch die Siedlung und locken die Feinde von der Scheune weg. Wenn der Weg frei ist, befreist du die Frauen und Kinder. Verstanden?« Er sah sie eindringlich an, und sie nickte und nahm ihre Waffen an sich. Kjell zog Schwert und Dolch. Noch nie hatte er mit dem Ragai-Schwert gekämpft, seine alte Heereswaffe wäre ihm viel lieber gewesen, doch sie war bei den Pferden geblieben, das war jetzt nicht mehr zu ändern.
Es dauerte, bis die Ethenier wirklich merkten, was in ihrer Mitte vor sich ging. Die Sicht war einfach zu schlecht, der Bogen schwieg. Die Jungen dachten nicht nach, wen sie töteten, irgendwie war ihnen klar, dass dort keine Frauen und Kinder mehr waren. Besonders Bjarne steigerte sich in einen richtigen Rausch hinein. Seine ersten Toten. Keine Reue, nur eine diebische Freude, gesiegt zu haben.
Die Schreie der Frauen und Kinder wurden immer erstickter und abgehackter, das Prasseln des Feuers nahm zu, und auf einmal hallten Alarmschreie durch die Siedlung.
»Schwärmt aus!«, schrie Kjell den anderen zu, und dann ging es plötzlich ganz schnell. Sie waren durch den Rauch hindurch, vor sich den Hafen und die zerstörten Lagerhäuser und Dutzende von Feinden, die alle gleichzeitig ihre Beute fallen ließen und nach ihren Waffen griffen. Und dann zischte es über sie hinweg, ein gewaltiger Schuss, welcher einen Bogenschützen fällte, der gerade auf sie angelegt hatte. Da gab es kein Halten mehr. Die jungen Kämpfer stürmten von drei Seiten heran, und unter den Etheniern, ihres Anführers beraubt, brach heillose Verwirrung aus. Hinterher sollte Kjell aufgehen, dass es nicht an ihnen selbst lag, sondern an den Schüssen, die in rascher Folge kamen und eine wesentlich größere Anzahl von Feinden vermuten ließen als nur einen einzigen Schützen und drei Fußkämpfer.
Kjell stürmte voran und machte alles nieder, was in die Reichweite seines Schwertes kam. Wie leicht, wie schnell es sich in seiner Hand anfühlte! Keiner der Ethenier konnte ihm etwas entgegensetzen, und er begann das erste Mal wirklich zu ahnen, welche Macht und Furcht von den Ragai ausgegangen war. Er war schnell und geschickt wie eine Schlange, aber er empfand nicht diese hämische Freude wie Bjarne oder solche Wut wie Phorsteinn, der sie laut herausbrüllte und die Feinde mehr mit seiner gewaltigen Stimme in die Flucht schlug denn mit seinem Schwert tötete. Zusammen aber war ihr Vorgehen verheerend, und es dauerte nicht lange, da wandten sich die verbliebenen Ethenier zur Flucht. Das war der Moment, da der Beschuss aufhörte und Kjell wusste, dass Hjordis von ihrem Dach heruntergesprungen war und auf dem Weg zur brennenden Scheune.
Die Ethenier rannten zu den Beibooten. ›Wir müssen sie aufhalten!‹, dachte er. Sofort wünschte er sich seinen Bogen herbei und verfluchte sich, ihn bei Hjordis gelassen zu haben. Im selben Moment spürte er eine Bewegung hinter sich und fuhr herum, das Schwert abwehrbereit erhoben.
»He!«, rief eine Silhouette, und im letzten Moment fing Kjell den Schwung seines Schwertes ab.
»Mann!«, schrie er voller Wut auf, was Hjordis aber nicht schreckte.
»Hier, dein Bogen. Halten wir sie auf!« Und weg war sie.
Kjell war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, bis er sich besann. Dann stürmte er hinter ihr her und schoss blindlings drauflos, voller Zorn darüber, dass sie ihn so überrumpelt und an seiner Statt die Führung übernommen hatte. Wütend schrie er sie an, aber das ging in dem Lärm unter. Auch Bjarne und Phorsteinn hatten ihre Bogen in der Hand und schossen, was ging. Da es hinter ihnen immer noch rauchte, konnten ihre Feinde nach wie vor nicht richtig ausmachen, wie wenige sie waren, und stießen in Panik die Boote vom Ufer ab. In ihrer Hast verkeilten sich die Ruder ineinander, genug Zeit für die Schützen, sie allesamt niederzumachen.
»Getroffen... getroffen... getroffen!! Schiieeeßt sie ab!« Phorsteinn brüllte sich die Kehle aus dem Leib. Er schoss und schoss und schoss und wagte sich dabei immer weiter aus der Deckung hervor.
»Was tust du?!«, schrie Kjell, hechtete hinter ihm her und riss ihn gerade noch rechtzeitig zu Boden, bevor ein Schütze auf ihn anlegen konnte. Den erledigte Hjordis, und auf einmal war es still. Die beiden anderen ließen ihre Bogen sinken und lauschten.
Kjell war sofort auf den Beinen und zerrte Phorsteinn hoch. »Bleibt hier. Gebt mir Deckung.« Vorsichtig und mit gespanntem Bogen näherte er sich den Beibooten. Nichts rührte sich. Doch, da ein leises Stöhnen. Kjell ließ Pfeil und Bogen fallen, zog sein Schwert und versetzte jedem der Feinde einen Schnitt über die Kehle, wie es ihn seine Onkel, allen voran Kiral von Branndar, gelehrt hatten. Wie betäubt war er dabei, und er wandte sich danach gleich der Siedlung zu und vollendete auch da, was noch nicht vollendet war.
Plötzlich fand er sich an der frischen Luft auf einer grünen Wiese wieder. Der Duft von Äpfeln war es, der ihn wieder zu sich brachte. Er blickte nach unten und sah, dass er mit seinen Stiefeln inmitten eines Haufens aus zertretenen Früchten stand. Rasch sah er sich um. Etwas weiter hinten lehnte Phorsteinn an einem Baumstamm und übergab sich. Neben ihm war Hjordis in die Knie gegangen, kreidebleich im Gesicht. Sie schwankte bedenklich, so, als wolle sie gleich ohnmächtig werden.
»He, alles in Ordnung?« Kjell hockte sich zu ihr und wollte sie festhalten, aber sie zuckte zurück. Seine Hände waren blutverkrustet, bemerkte er voller Ekel. Er stand auf und suchte sich die nächste Viehtränke, wo er sich reinigen konnte. Als er fertig war, kam sein kleiner Bruder gerade aus der Siedlung marschiert, in einer Hand seinen Köcher und Bogen, in der anderen einen länglichen Gegenstand, den Kjell bei näherem Hinsehen als ein Ragai-Schwert erkannte.
»Hier.« Er warf es vor Kjell auf den Boden. »Die anderen hatten keine Schwerter, nur Dolche und Äxte.«
»Du scheinst dich ja prächtig amüsiert zu haben«, stieß Kjell hervor.
Mit blitzenden Augen stand Bjarne vor ihm, noch immer außer Atem, und lachte ihn aus. »Und ob, und ob! Das war ein richtiger Kampf, eine Schlacht, und wir haben gewonnen!«
»Oh ja, durch Glück, Zufall und dass wir Hjordis getroffen haben.« Kjell hob das Schwert auf und wog es in der Hand. Ein echtes Ragai-Schwert, unendlich kostbar und begehrt, das wusste er. »Ich finde, Hjordis sollte es bekommen. Sie hat den Ragai getötet.« Er sah zu ihr. Sie schien sich wieder gefangen zu haben, rappelte sich gerade auf. »Hier«, er streckte ihr die Waffe hin, »diese Beute gehört dir.«
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