»Warte! Hat es gestern nicht geregnet? Sieh doch, der Boden ist nass. Das ist kein Waldbrand! Nein, dort vorne brennt etwas Größeres. Sehen wir nach, aber vorsichtig. Setzt eure Kapuzen auf.«
Nach kurzer Überlegung banden sie die Pferde an der Brücke an und versperrten diese mit ein paar schweren Ästen, damit die Tiere nicht wieder fliehen konnten. Auch sein Schwert steckte Kjell wieder in die Scheide und griff stattdessen nach Pfeil und Bogen. Wenn das ein natürliches Feuer war, dann war das überflüssig, aber wenn nicht...
Im Schutz der Bäume schlichen die drei jungen Männer vorwärts. Der Wind drehte etwas, und schon war der Rauch wieder verschwunden. Das sagte Kjell, dass das Feuer weiter entfernt sein musste, sonst hätten sie auch etwas gehört. Aber es war immer noch unheimlich still.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Bjarne.
Geduckt schlichen sie weiter. Das Gelände begann sich abwärts zu neigen, und durch die Bäume schimmerte es blau mit hellen Lichtpunkten darauf. Es war das Meer, noch weit entfernt, aber dann wurde es wieder von einer Rauchwolke verdeckt und sie selbst so schnell in dichten Qualm gehüllt, dass es ihnen fast den Atem nahm. Von weiter unten drang ein Geräusch, das sie erst nicht einordnen konnten, doch je näher sie kamen, desto lauter wurde es.
»Habt ihr das gehört?«, zischte Phorsteinn. Es klang wie ein lang gezogener Schrei.
»Sei still!« Kjell stieß ihn an. Er hatte etwas anderes gehört, ganz in der Nähe. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ganz langsam spannte er seinen Bogen und sah sich um. Schräg hinter ihnen war ein dichtes Gebüsch und darin bewegte sich ein Schatten! Kjell schoss, ohne zu überlegen. Es folgte ein Schrei, es knackte laut, als jemand fiel, gefolgt von einem unterdrückten Fluch. Schon war Kjell ins Gebüsch gesprungen, packte zu und zerrte eine sich heftig wehrende Gestalt daraus hervor. Sie war groß und schlank, und als er den Umhang herunterriss, kam eine Fülle langer, ziemlich verfilzter Haare darunter zum Vorschein. Ein grünes Augenpaar blitzte ihn aus dem schmutzigen, bartlosen Gesicht heraus aus an. »Lass mich los!«
Überrascht tat Kjell, was sie verlangte. Das war eine hohe Stimme gewesen, eine Frauenstimme. Sofort war sie auf den Beinen, mit kampfbereit geballten Fäusten. Groß, wie sie war, brauchte er nur ein wenig nach unten schauen, eine Wohltat nach Jahren des gesenkten Hauptes in Gilda, wenn er mit jemandem reden wollte. Sie atmete heftig, hatte aber keine Angst, soweit er das sehen konnte, war eher wütend, sogar sehr.
»He, ganz ruhig. Wir tun dir nichts«, sagte Phorsteinn. Sofort schwand der feindliche Ausdruck in ihrem Gesicht, und sie nahm ihre Fäuste herunter.
»Ihr... ihr seid welche von uns!« Sie atmete auf.
»Ja.« Alle drei ließen sie jetzt ihre Bogen sinken und schlugen die Kapuzen zurück. »Wir waren auf Reisen und wollen nach Saran. Das sind Kjell und Bjarne, und ich bin Phorsteinn.«
Sie musterte sie misstrauisch. Es war nicht üblich, sich ohne vollständige Namen, also Jeldriksfalir und Brynsfalir, vorzustellen. Schließlich nickte sie knapp. »Hjordis. Ihr habt Glück gehabt. Ein paar Stunden früher, und es gäbe euch vermutlich nicht mehr.« Sie holte tief Luft und spie aus. »Saran ist überfallen worden, und diese Siedlung auch.«
»Bei den... wer?!«, riefen die Jungen alle durcheinander und wollten nach ihr fassen.
»Ich weiß nicht, wer!« Fauchend schlug sie ihre Hände fort und trat zurück, sie böse anfunkelnd. »Hätte ich sie gesehen, wäre ich jetzt nicht hier! Sie kamen, kurz nachdem alle Männer mit den Schiffen aufgebrochen waren. Ich wollte gerade nachsehen, ob die Frauen und Kinder in die Wälder fliehen konnten, habe aber niemanden gefunden. Deswegen will ich jetzt zur Siedlung hinunter.«
»Wir kommen mit.« Das war für Kjell keine Frage. »Hast du eine Waffe?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann bekommst du eine von uns.« Wieder Kopfschütteln, was Kjell verwunderte. Lernten nicht alle Mädchen das Kämpfen von ihren Vätern?
»Ich nehme meinen Bogen. Ich bin eine gute Jägerin. Er liegt dort hinten.« Sie holte ihn, und Kjell gab ihr zur Sicherheit noch einen Dolch. Die Schwerter zu holen, das verwarf er jetzt. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte.
Immer wieder spürte er ihren Blick auf sich, während sie sich durch die Bäume vorwärts pirschten. Sie rätselte, wer er war, das merkte er. Als der Qualm dichter wurde und sie das Knacken und Prasseln von brennendem Holz hörten und dazwischen die hohen Schreie der Frauen und Kinder, stieß sie plötzlich aus: »Ihr beide, ihr seid die Söhne von Jeldrik Roarsfalir! Jetzt weiß ich, woher ich euch kenne!«
›Verdammt‹, dachte Kjell. Irgendwie hatte er gehofft, dass er noch eine Weile von seinem Erbe verschont bleiben würde. Er nickte nur knapp und sagte nichts darauf, sondern hieß sie mit einer Geste, still zu sein.
Im selben Moment erreichten sie den Rand des Waldes und blickten auf die Siedlung herab, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war, sofern sie das in dem Qualm erkennen konnten. Draußen in der Bucht sahen sie zwei fremde Schiffe vor Anker, im Hafen einige Beiboote liegen. Alle Gebäude standen in Flammen, bis auf eine große Scheune am Rande der Siedlung.
»Bei den Göttern, seht!«, rief Phorsteinn unterdrückt.
Kjell musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können, doch da sah auch er es: Rings um die Scheune hatten Bewaffnete Aufstellung genommen, in je einer Hand ein Schwert und in der anderen eine brennende Fackel. Eben trieben ein paar Kämpfer eine Gruppe Frauen und Kinder hinein. Ein einzelner Kämpfer stand abseits und beobachtete das Geschehen mit verschränkten Armen. Eine knappe Handbewegung von ihm, und das Tor wurde verrammelt und die Fackeln flogen auf das Dach der Scheune, das sofort Feuer fing.
»Sie wollen sie bei lebendigem Leib verbrennen!«, schrie Hjordis auf.
»Still!«, fuhr Kjell sie an. Einen Moment lang verzog sich der Rauch in eine andere Richtung, und sie mussten sich ducken, damit niemand sie sah. Aber Kjell gelang es, einen freien Blick auf den Anführer zu erhaschen. »Das ist ein Ragai, seht doch! Der mit dem kahlen Schädel und den dunklen Malen!« Den würde er überall erkennen.
»Und Ethenier! Vater hatte recht!«, rief Bjarne. »Wir müssen sie befreien! Lange halten sie das nicht durch, hört doch!« Die gequälten Schreie der Frauen und Kinder wurden immer lauter.
»Seid still, verdammt nochmal, sonst hört man uns!« Kjell überlegte fieberhaft. »Wenn wir einfach nach unten stürmen, dann erreichen wir gar nichts. Nein, wir müssen zuerst den Ragai erledigen.«
»Aber wie? Gegen den bestehen weder du noch ich«, wandte Bjarne ein.
»Nein, werden wir nicht. Aber mit Pfeil und Bogen?«
»Dem entkommt er, so schnell, wie die Ragai sind. Denk doch daran, was Vater und Phelan erzählt haben!«
»Einem vielleicht, aber vier?«, ging Hjordis dazwischen. »Einer nimmt die Stirn, einer das Herz, einer den Bauch und einer die Schulter. Selbst wenn er abtauchen sollte, treffen wird ein Pfeil und das tödlich. Los, beeilt euch, sonst verbrennen sie noch!« Und sie stürzte davon, ehe Kjell sie aufhalten konnte.
Da blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. »Bleib’ stehen, verdammt nochmal!« Richtig grob zerrte er sie zurück und übernahm die Führung. Zum Glück wurde der Qualm jetzt so dicht, dass ihr leichtsinniges Handeln unentdeckt blieb.
An einer niedrigen Mauer hielt Kjell an und spähte geduckt hinüber. Als er die anderen hinter sich spürte, flüsterte er über die Schulter: »Wir erledigen sie ganz leise, bis wir den Ragai finden. Die beiden dort drüben zuerst.« Er deutete auf ein paar Ethenier, die dabei waren, die rückwärtigen Gärten zu plündern, und gar nicht merkten, was da über sie kam. Wie die Geister schlichen sich Kjell und Bjarne heran, überwältigten sie und schnitten ihnen die Kehlen durch, bevor sie einen Laut von sich geben konnten.
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