Die verdreckte Tunika und den Lendenschurz wollte er als Andenken aufheben. Nie wieder würde er sie tragen. Stattdessen legte er Beinlinge und Hemd an, dann Stiefel und seinen Umhang. Besondere Sorgfalt verwendete er auf seine Waffen. Als erstes legte er das Ragai-Schwert an, die Waffe seines Vaters. Er hatte sie einfach mitgenommen, ohne zu fragen, weil er fand, dass ihm das als ältesten Sohn und Erben zustand. Bewundernd drehte er die feine Klinge im Sonnenlicht. Er würde es bis an sein Lebensende tragen und mit aller Macht verteidigen.
Sein gildaisches Heeresschwert, das er seit Ende der Heerschule als Offizier trug, wickelte er in die Tunika ein und steckte es weg. Es war zwar aus Ferrium, aber im Vergleich zu dem anderen kürzer und wirkte eher plump. Eine solide, zuverlässige Waffe. Sollten dereinst seine Söhne und Töchter damit üben. Den Dolch steckte er wie alle Saraner unter das Hemd und sein kleines Messer, das Geschenk des Königspaares, kam wie gewohnt an den Arm. Da durchzuckte es ihn schmerzhaft, bei welcher Gelegenheit er es bekommen hatte. Und mit wem.
Lara.
Er kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Atmete einmal zischend ein und aus. Nicht daran denken!
»Auf geht’s!«, sagte er zu seinem Tier, das wie alle gildaischen Pferde keinen Namen trug, und erntete ein fast belustigt klingendes Schnauben. Es war ein gutmütiger Wallach, kein feuriger Hengst, wie ihn manche seiner Heereskameraden bevorzugt hatten. Kjell war ein Tier ohne Kapriolen allemal lieber als eines, das einem zu vermeintlichem Ansehen verhalf.
An diesem Tag ritt er nicht mehr lange und schlug tief im Wald sein Lager auf. Ein friedlicher Ort war das, mit leise säuselndem Wind und in der Ferne dem Rauschen der Wellen. Hier würde er gut schlafen können. Nur, dass er noch ziemlich ausgeruht war und allenfalls ein wenig wegdöste.
Deshalb war er auch gleich hellwach, als es irgendwo in der Nähe laut knackte. Er sprang auf und ging hinter einem Baum in Deckung. Vor seinem glimmenden Feuer gab er ansonsten ein viel zu leichtes Ziel ab. Angespannt spähte er in die Dunkelheit. War es ein Tier gewesen? Aber nein, da schnaubte es leise, und dann hörte er das Klirren eines Zaumzeuges, als wenn ein Pferd den Kopf schüttelte. Es kam aus Richtung des Pfades, den er entlang gekommen war.
Lautlos schlich sich Kjell an den Unbekannten heran. Da, dort vorne bewegte sich jemand durch die Bäume. Kjell spannte seinen Bogen. »Halt, wer da?!«
Die Gestalt machte einen selbst in der Dunkelheit gut sichtbaren Satz. Dann klammerte sie sich an ihr Pferd und stieß ein erleichtertes Lachen aus. »Oh Mann, hast du mich erschreckt!«
»Bjarne?!« Kjell ließ verblüfft seinen Bogen sinken. »Was machst du hier?«
»Na, was schon, ich bin dir gefolgt! Seit Tagen schon versuche ich, dich einzuholen.«
Kjell fehlte die Sprache vor lauter Überraschung. »Aber...«
Lässig kam Bjarne herangeschlendert. »Du glaubst doch nicht, dass ich mich wie ein Paket zu Bryn verfrachten lasse und brav dort bleibe? Ich will kämpfen!« Das kam so euphorisch heraus, dass Kjell lachen musste.
»Na dann, willkommen, Bruder! Willst du was essen? Ich habe noch was übrig.«
»Oh, immer. Ich sterbe vor Hunger!«, grinste Bjarne und folgte ihm.
Wann hatte sein Bruder mal keinen Hunger, dachte Kjell später. Er hatte das Feuer entfacht und die Reste der erlegten Vögel auf kleine Spieße gesteckt und sogar noch etwas Brot gefunden.
»Du warst so schnell, dass ich dich in der Steppe nicht mehr gefunden habe«, erzählte Bjarne mit vollem Mund. Kjell betrachtete ihn. Dreckstarrend, mit verfilzten Haaren, den ersten blonden Bartstoppeln und fröhlich blitzenden Augen saß sein kleiner Bruder vor ihm. Kjell hätte schwören können, er war schon wieder gewachsen.
Bjarne sah auf. »Was schaust du so?«
»Nichts.« Kjell winkte ab. »Ich dachte nur... dass du Regnar immer ähnlicher siehst. Seine Kraft hast du auf jeden Fall geerbt, denn den Ritt, den sieht man dir nicht an.«
Bjarne prustete los und verschluckte sich. »Ich bin geritten wie der Teufel, aber erst am Ende der Hochebene habe ich dich in Richtung der Sümpfe entdeckt. Aber wirklich eingeholt hatte ich dich erst, als du so lange geschlafen hast.« Er leckte sich die Finger ab.
Kjell zog die Augenbrauchen hoch, griff hinter sich und reichte ihm ein Tuch. »Hier, nimm dies.«
Das veranlasste Bjarne zu einem erneuten Grinsen. Er wischte sich die Finger ab. »Ah, das tat gut! Was hast du jetzt vor? Willst du zu Bryn und Waffen kaufen?«
»Tja, das ist die Frage. Ob Vater schon welche bei ihm bestellt hat? Das hätte ich jedenfalls getan, bevor ich nach Gilda aufgebrochen wäre.«
»So oder so werden wir dort mehr von den Unruhen in Ethenien erfahren, denn wenn einer weiß, was in der Gegend vor sich geht, dann Mahin und vielleicht noch die Temorer. Wir könnten Galvin einen Besuch abstatten.«
Der Gedanke veranlasste Kjell zu einem Stirnrunzeln. »Und ihm brühwarm erzählen, dass Mutter jetzt Witwe ist? Nein, danke! Damit tun wir ihr keinen Gefallen. Ach, das wusstest du nicht?« Bjarne war das Erstaunen anzusehen. »Na, dann sperr mal die Ohren auf, Bruder!«
Kjell empfand nicht wenig Genugtuung, ihn aufzuklären. Offenen Mundes, die Augen weit aufgerissen, hörte Bjarne zu, wer in Temora wohl keine allzu tiefe und aufrichtige Trauer über den Tod ihres Vaters empfinden würde: Galvin, Jugendfreund ihrer Mutter aus vergangenen Tagen, der sie schon immer begehrt hatte und immer noch begehrte.
»Sehr schwierige Sache«, schloss Kjell, »besonders, wenn sie sich endlich entschließen sollte, Faye nach Temora zu bringen. Wer weiß, wann sie sich dazu durchringt.«
»Ich frag mich, wo sie dann wohl leben will. Doch nicht bei den Priestern!«
»Bei Maret im Bannwald, das möchte ich wetten.«
»Jaah, und über die erfährt Galvin es eh, egal, was wir tun. Bestimmt hat Onkel Currann bereits eine Botschaft losgeschickt, sodass sie eh wissen, dass wir auf dem Weg sind.«
Kjell prustete los. »Um auf uns aufzupassen?« Er lachte schallend. »Glaubst du das wirklich?«
»Hmm... ja. Aber ich glaub’, es hat uns niemand überholt. So schnell wie wir sind die niemals, selbst nicht mit diesem Umweg.« Er wies auf das Wäldchen um sich herum.
»Na, dann macht es auch nichts, wenn wir Bryn einen Besuch abstatten und die Waffen mitnehmen.«
»Nur, wie willst du die bezahlen? Weißt du, wie Vater das gehandhabt hat?«
Bei dem Wort verschwand Kjells Fröhlichkeit wie fortgewischt. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Er hat mir zwar jeden Winter erzählt, wie es um unseren Besitz in Saran bestellt ist, aber wo er seine Barschaft lagert und was er mit Bryn abgemacht hat... keine Ahnung. Wir werden es herausfinden müssen.«
Es versetzte Kjell in Unruhe. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht und auch nicht, dass seine Mutter die eigentliche Besitzerin ihres Vermögens war. ›Alles zu seiner Zeit‹, dachte er, aber die Unruhe blieb.
Auch wenn Kjell sich eher die Hand abgehackt hätte, als das zuzugeben, er war froh, dass sein Bruder da war. Mit seiner gutmütigen Art, die Dinge leicht zu nehmen, vertrieb Bjarne ein wenig die düsteren Wolken in seinem Gemüt. In Galeac, der nördlichsten Siedlung Nitreas, gönnten sie sich ein ausgiebiges Mahl in dem Gasthof. Niemand beachtete die beiden jungen Saraner sonderlich, es war ganz normal, dass Reisende hier durchkamen. Allenfalls die Tatsache, dass sie keine Packtiere mit sich führten, wäre dem einen oder anderen merkwürdig vorgekommen, aber das bemerkte außer dem Stallknecht niemand.
Die Brüder hatten sich unauffällig in eine Ecke zurückgezogen und sprachen kaum ein Wort. Stattdessen lauschten sie aufmerksam den Gesprächen um sich herum, ob irgendetwas von den Unruhen im Süden zur Sprache kam, aber es ging nur um die vergangene Ernte, wer wie viel Holz im Winter einschlagen wollte und wer noch einmal zur Jagd ins Delta aufbrechen.
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