»Friss oder es frisst dich!«
Während in den meisten Straßen nächtliche Ruhe eingekehrt war, herrschte in einem ganz bestimmten, ziemlich düsteren Weg noch eifriges Treiben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn an den Straßenrändern standen viele Frauen und dazwischen einige Männer, die scheinbar auf jemand warteten. Dabei trugen alle Gestalten kaum Kleidung, räkelten sich und stöhnten, wenn jemand durch die Straße ging. Viele der Vorbeikommenden suchten sich einen Partner aus und verzogen sich in eine kleine Gasse, in der sich bereits Dutzende Paare amüsierten. Aus ihr drang massenhaft lautes Gestöhne und der penetrante Geruch von Schweiß und anderen Flüssigkeiten. Fleisch rieb sich an Fleisch, juchzend und stöhnend vor Erregung. Meistens zu zweit, aber auch zu dritt und zu fünft. Eigentlich bestand der ganze Ort aus Menschen, die sich alle wild durcheinander bewegten. An diesem sündhaften Ort verweilte ich nicht lange, sondern suchte rasch das Weite. Gerade war ich in einer Seitengasse nahe des Hauptweges, da hörte ich einen Angstschrei einer Frau. Ich jagte die Straße entlang und bog um die Ecke. Als ich die Stimmen eines Mannes und der besagten Frau von der Nähe hörte, schlich ich bis in eine kleine Weggabelung und lugte um die Ecke.
»Komm mein hübsches Mädchen, komm!«
Ich sah den Rücken eines Menschen und dahinter an die Wand gepresst eine Frau mit angstverzerrtem Gesicht. Ihr graues Kleid schien einen Riss zu haben, denn die Frau hielt sich das Kleidungsstück an der Brust zusammen. Der Weg endete einfach an einer Hauswand ohne eine Tür, so dass die Frau in der Falle saß.
»Wenn du noch einmal schreist, schlitze ich dir die Kehle auf!«, hörte ich den Mann mit erregter Stimme sagen, während er sich langsam seinem Opfer näherte. Die Lampe über der Frau erzeugte einen langen, bedrohlichen Schatten des Mannes, der sich sehr lang über den steinernen Boden bis zur gegenüberliegenden Wand hinter mir erstreckte. Dann hörte ich, wie die Frau noch mehr bettelte und sah, wie der Mann gleichzeitig den rechten Arm hob. Über seiner Hand reflektierte plötzlich ein langer, flacher Gegenstand das Licht. Er hielt einen sich krümmenden Dolch in der Hand und während er weiter auf das Mädchen zuging, hob er die Waffe immer höher.
»Lass ab von diesem Mädchen!«, rief ich laut. Der Mann drehte sich um und schaute mich mit seinem langgezogenen, hässlichen, krummnäsigen Gesicht an. Dann ging er auf mich los, obwohl ich ihm eigentlich nichts getan hatte. Musste wieder so eine komische Verhaltensart der Zweibeiner sein, dachte ich bei mir, duckte mich ein wenig und hielt meinen Arm zum Verteidigen in die Höhe. Sein rechter Unterarm krachte mit voller Wucht auf den meinen, was ich nur mit einer weichen Berührung wahrnahm, während der Mann scheinbar vor Schmerz aufheulte und den Dolch fallen ließ. Sein Arm war sicherlich nicht gebrochen, das hätte ich gehört, aber immerhin schien sein Knochen gestaucht und seine Muskeln leicht gequetscht zu sein. Ich richtete mich wieder auf und stupste den Mann mit meiner Faust in den Magen. Er klappte sofort zusammen und blieb winselnd auf dem Boden liegen, unfähig mir oder der fremden Frau auch nur ein Haar zu krümmen. Ich schaute zu ihr und sie schaute ungläubig zurück. Sie schien so verblüfft durch mein unerwarteten Auftritt, dass sie ganz vergaß, ihr zerschlitztes Kleid festzuhalten, also blätterte es auseinander. Aus Höflichkeit, die ich bereits von den Zweibeinern erfahren hatte, ließ ich den Kopf zur Seite wandern, als interessierte mich ein besonders schöner Stein an der Wand. Dabei spürte ich jedoch ihre neugierigen Blicke, die sie über meinen halbnackten Körper schweifen ließ. Mich störte das nicht, selbst wenn ich keine Hose getragen hätte. Wir Drachen besaßen schließlich keine Privatsphäre und auch keine Kleidung.
»Wer seid ihr, junger Herr?«, fragte sie mich.
»Nur ein Freund, der wie der Zufall es wollte, zur richtigen Zeit anwesend war.«, antwortete ich. Dann wandte ich mich um und verschwand in der Seitengasse.
»Wartet!«, rief die Frau mir noch nach und trat in die erleuchtete Gasse, wo ihre Augen mich vergebens suchten. Ich hing während dessen fünf Meter in der Höhe an einem, wie die Menschen es nannten: Fenstersims. Springen konnte ich also noch. Nach wenigen Augenblicken gab die Unbekannte auf, mit ihren Augen nach mir zu suchen und sie ging einen anderen Weg entlang, bevor sie allerdings noch einmal dem Mann einen Tritt in die Niere versetzte. »Schuft!«
Es war nun tief in der Nacht und ich schlenderte allein durch die vollkommen ausgestorbenen Gassen. Alle Räumlichkeiten lagen nun im Dunkeln und somit konnte ich heute nichts mehr über die Menschen lernen. Schnell wurde mir langweilig. Jagen wollte ich noch nicht, da es so tief in der Nacht war, wo Pflanzenfresser und Fleischfresser (außer Drachen natürlich) fest schliefen. Erst am frühen Morgen würde ich wieder jagen können. Also trottete ich ziellos durch die dunklen Gassen. Nach und nach kannte ich mich in der kleinen engen Ortschaft aus, doch viel Aufregendes gab es hier für einen hungrigen Drachen nicht. Keine Schafe, keine Ziegen und auch keine Kühe gab es innerhalb der Stadtmauern. Nur einen kleinen Fluss, der unter der Mauer hinein- und nach einigen Metern wieder hinausfloss. Dabei hielten dicke Eisengitter unter der Wasseroberfläche Eindringlinge außerhalb der Grenzen. Hätte ich in der Flussmitte gestanden, würde mir das Wasser sicherlich bis zum Hals reichen, so tief vermutete ich ihn. Flache Stufen reichten von einem kleinen Platz zum Gewässer, so dass die Menschen Wasser schöpfen, Kleidung waschen und ihre Körper reinigen konnten. Clever, wirklich clever, das musste ich den Zweibeinern lassen. Sie brauchten keinen tiefen Schacht für einen Brunnen ausheben und mussten auch den Schutz der Mauern nicht verlassen, um an Wasser zu gelangen, sondern das Wasser kam zu den Bewohnern. Doch dieser Vorteil konnte sicherlich auch rasch zu einem Nachteil werden. Denn wenn diese Festung eines Tages durch feindliche Truppen belagert würde, konnten die Feinde einfach Gift in das Wasser geben und die Bewohner würden dadurch oder durch Wassermangel zu Haufen sterben. Aber wer weiß? Vielleicht versteckte sich in einem der vielen Häuser doch irgendwo ein geheimer Brunnen, der in solchem Falle die Bewohner retten könnte. Ich stillte rasch meinen Durst und verschwand wieder in den engen und verwinkelten Gassen. Da hörte ich ein paar Gassen weiter leises Gelächter. Ich beschloss, den vielen Stimmen zu folgen. Je näher ich den vielen Stimmen kam, konnte ich immer mehr von den gesprochenen Worten verstehen.
»...Mindestens zwanzig Drachen.«, hörte ich da und es folgte erstauntes Raunen. Ein wilder Strom von Wut erfasste meinen Körper und drohte ihn wegzuspülen, doch ich musste mich über Wasser halten. Egal was auch passierte, ich konnte mich jetzt nicht einfach so verwandeln. Mein Drachenkörper würde sie sicherlich darauf bringen, dass sich Vila hier irgendwo aufhalten könnte. Nein! Ich schloss kurz die Augen und senkte durch meiner Konzentration und meiner bewussten, ruhigen Atmung mein Herzrasen. ›Denk an etwas Schönes.‹, sagte ich mir, ›Denk an Vila‹. Tatsächlich beruhigte ich mich ein wenig, als ich an ihre zärtlichen Züge dachte. Erst als ich mich wieder im Griff hatte, traute ich mich, mein Herz zu beruhigen und meine Ohren wieder zu öffnen. Die tiefe Stimme, die gerade so angeberisch gesprochen hatte, sagte nun:
»Letztlich habe ich gegen einen riesigen Drachen gekämpft. Er war so riesig, dass allein seine Zähne, die alle samt so scharf wie eure Dolche waren, die Größe eines stattlichen Mannes hatten. Er hat mir diese Narben zu gefügt. Es wäre mir ein Leichtes sie zu heilen, aber ich finde, sie schmücken mein Gesicht und lassen mich unheimlicher aussehen.«
Gigantisch großer Drache, ja ja. So ein Angeber. Ich bin nicht mal ein Bruchteil so groß, wie der erzählt. Gerade war ich an dem Weg angelangt, auf dem die Männer standen. Ich spähte im Schutze der Dunkelheit um die Ecke und erkannte im matten Schein einer Lampe fünf bis acht Soldaten des Königs in einem Kreis, teils stehend, teils sitzend.
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