»Wie ist dein Name?«, fragte ich ihn mit einem Lächeln. Seine braun-goldenen Augen flogen von den um uns stehenden Bäumen in meine Richtung.
»Ich habe keinen Namen.«, antwortete er.
»Was? Keinen Namen?«, wiederholte ich zum Teil ungläubig.
»Jedenfalls keinen, welchen du auszusprechen vermagst.«
Zuerst grübelte ich über seine seltsame Antwort, doch dann wurde es mir klar.
»Ach so, du kommst aus einem anderen Land und dein Name ist so kompliziert, dass die Einwohner dieser Länder ihn nicht auszusprechen vermögen.«
»Jaaa…«, hörte ich ihn langgezogen sagen. Ich vermutete, dass ihm das Thema vielleicht unangenehm sein könnte, also fragte ich ihn nicht weiter aus. Ich wandte mich nach vorn und tauchte nach einiger Zeit wieder ein in düstere Erinnerungen der Vergangenheit. Dunkle Wolken zogen im Laufe des Nachmittags auf und verdeckten mit ihren düsteren Bergen den Sonnenuntergang. Während wir auf einem Felsvorsprung standen, lag vor uns das Dorf Flecus. Es besaß ungefähr doppelt so viel Land wie Drachenbrück und war wehrhaft, wie Raco bereits gesagt hatte. Um die dicht gebauten Häuser aus Stein zog sich ein fester Wall, nur von den beiden Toren im Norden und Süden unterbrochen. Da ich seit langer Zeit nur das Dorf meiner Heimat gesehen hatte, empfand ich dieses Dorf als ziemlich groß gebaut und übertrieben befestigt. Es ähnelte weniger einem Dorf sondern eher einer Festung. Als ob Raco meine unausgesprochenen Gedankengänge bestätigen wollte, sagte er:
»Das ist das Dorf Flecus, die Grenze des Reiches der Menschen zu dem Reich der Drachen. «
Als er das sagte, schaute er den Fremden eindringlich an. Ich beachtete die Blicke der beiden nicht weiter, sondern schaute auf die Ortschaft, die sich vor uns auf der kargen Landschaft erstreckte und zusammen mit den schweren Wolken für mich noch düsterer erschien. Dies war gewiss kein Ort für ein kleines Mädchen, das frei sein wollte. Es war ein Gefängnis! Ein Wachposten, welcher die Drachenberge immer im Auge behielt und die dort lebenden Wesen auf ihren trostlosen Bergen gefangen hielt. Von der Ferne her konnte ich leise Musik und heiteres Gelächter von Männern hören.
»Wir sollten uns auf den Weg hinunter machen. Die Wachen verbarrikadieren die Tore in der Nacht. «
Der Weg hinunter von dem letzten Stückchen Berg erwies sich als schwierig, als wollten die Ausläufe der Drachenberge uns nicht gehen lassen. Der Pfad war so eng und steil, dass Donnerhall sogar ausrutschen konnte. Also stieg ich ab und da ich den ganzen Tag auf seinem Rücken gesessen hatte, hieß ich den mit Kieselsteinen überhäuften Erdboden willkommen. Endlich hatte ich Gelegenheit, meine schmerzenden Muskeln einmal zu bewegen. Aber erst nachdem ich vom Rücken des Pferdes gestiegen war, spürte ich sie.
»Wer seid ihr? Was wollt ihr? «
Lächelnd traten wir in den hellen Schein der Fackeln. Augenblicklich standen wir vor einem der verschlossenen Tore und einer missgelaunten, königlichen Wache, die uns scharf beäugte.
»Mein Name ist Raco und ich bin Magier aus Drachensbrück. «, sagte Raco und machte einen Schritt auf den Wachmann zu, der verängstigt seinen Speer noch fester umklammerte.
»Schön, und wer ist die junge Dame und die Gestalt dort hinten? Gehört der auch zu euch? «
»Mein Name ist Vila«, antwortete ich rasch. »Und dort hinten steht… steht… mein Bruder. Er ist ein wenig scheu, hat Angst vor so großen, starken und stattlichen Wachen wie ihr es seid. «, log ich mir rasch zusammen.
»Und wie lautet sein Name?«, fuhr er mich ungerührt an.
»Sein Name ist... ist Athema .«, überlegte ich rasch.
»Und ihr kommt aus Drachensbrück?! Soso, ihr habt also den Weg über den südlich gelegenen Arm der Drachenberge genommen, statt wie normale Bürger es tun würden, den Schwingenpass zu nehmen. Und jetzt erbittet ihr bei mir mitten in der Nacht Einlass in unser Dorf! «
›Mitten in der Nacht? ‹, fragte ich mich und schaute gen Westen, wo ich noch zwischen einem Loch in den Wolken, den rotleuchtenden Zipfel der untergehenden Sonne sehen konnte.
»Ja, ich bitte euch als freundlicher Wächter der Ortschaft. «,
schmeichelte Raco.
»Ihr könnt euch bei mir einkratzen, so viel ihr wollt! Ich werde euch dennoch keinen Zutritt gewähren! Schließlich kann ich nicht jeden dahergelaufenen Strolch, der mir vor die Füße kommt, herein bitten! Wo würde ich da hinkommen?«
Raco antwortete nicht, sondern zog aus dem Inneren seines Umhangs einen Beutel hervor. Er öffnete ihn, holte eine Münze heraus und gab sie dem misstrauischen Wachmann. Der nahm die Münze entgegen und biss darauf, um die Echtheit zu prüfen. Dann schaute er mich an.
»Die Dame an eurer Seite kann ich kaum mehr erkennen. Doch noch reichen eure Zauberkünste nicht aus, um euch ganz verschwinden zu lassen. «
Ich sah, wie der Wächter sich wieder schielend dem Lederbeutel in Racos Hand zuwandte. Raco ließ drei weitere Münzen in die gierigen Hände des Mannes fallen. Der unternahm allerdings nichts, sondern kniff nur die Augen zusammen, als würde er uns schlecht sehen können und ließ die Münzen fröhlich in seiner immer noch ausgestreckten Hand klirren. Raco verstand und legte treuherzig fünf weitere Münzen in seine Hand. Ich starrte auf das viele Geld, welches einfach mal so den Besitzer wechselte. Allein diese neun unnötigen Münzen hätten das Leben meines Vaters und meines um ein Vielfaches verbessert.
»Nun gut.«, räusperte sich der Wachposten. »Wie es mir scheint, sind die Straßen heute besonders stickig. Ich denke, einmal kurz lüften sollte nicht schaden. «
Und mit diesen Worten hieb er mit seiner gepanzerten Faust gegen das Holz und rief zu einem seiner Wachleute hinauf: »Öffnet das Tor!«
Die beiden Torflügel schwangen knarrend auf und ließen uns ein. Als wir einige Schritte weit von der Wache entfernt waren, wandte ich mich ungläubig an Raco.
»Warum hast du dich so ausnutzen lassen? Das Geld hättest du anderweitig investieren können! «
»Es ist besser, wir suchen uns einen geeigneteren Unterschlupf, als ständig auf der Straße zu schlafen. Zudem bist du immer noch verletzt und geschwächt, vergiss das nicht! «
»Ja.«, antwortete ich kleinlaut. »Aber dennoch hättest du diesen Betrüger einfach verzaubern können, anstatt ihm deine ganzen Ersparnisse zu überlassen. «
»Ärgere dich nicht, Vila. Schließlich begegnet man sich immer zweimal im Leben. «
Ein Junge mit einer Stute ging an uns vorbei und Raco nutzte seine Chance.
»He Junge!«, rief er und der Knabe blieb erschrocken stehen und drehte sich verwundert um. Raco nahm noch rasch den großen Sack mit den Decken und anderen Gegenständen vom Rücken seines Pferdes, dann reichte er ihm die Zügel.
»Bringe ihn sicher zu den Stallungen, sorge gut für ihn, gib ihm anständig Futter und Wasser, striegle ihn und du wirst belohnt werden. Doch falls er in schlechtem Zustand oder nicht mehr da sein sollte, wenn ich komme, werde ich dich in eine Maus verwandeln.
Marsch jetzt!«
Der Junge nahm verängstigt die Zügel von Donnerhall und eilte davon. Ich starrte Raco fassungslos an, als sei er verrückt geworden einem fremden Menschen sein wertvolles Pferd zu hinterlassen.
»Wenn ich es wünsche, kann ich Donnerhall von überall her wahrnehmen und ihn finden.«, erklärte er, als er meine entsetzten Gesichtszüge deutete.
›Magie hat doch was für sich.‹, dachte ich mir und ich ertappte mich dabei, wie ich Raco um die Kraft der Magie beneidete. Der fremde Junge, der die ganze Zeit Abstand gehalten hatte,kam an meine Seite und schaute mich mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend an.
»Athema? «, fragte er mich.
»Ich dachte mir, es würde irgendwie passen. Zumal du keinen Namen hast, wie du uns gesagt hast. Wenn er dir nicht gefällt, können wir gern über einen anderen nachdenken.«, sagte ich entschuldigend, da ich aus seiner Miene nicht schließen konnte, ob er sich nun über den Namen freute oder verärgert war.
Читать дальше