Friedrich Gerstäcker - Der Kunstreiter, 1. Band
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Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter, 1. Band
Der Kunstreiter
1
Auf der Hauptpromenade der Residenzstadt *** herrschte heute, bei dem außerordentlich freundlichen und warmen Wetter, reges Leben. Dieser Platz lag am entferntesten von dem Meßtreiben, das gerade jetzt die übrige Stadt erfüllte, und zahlreiche Equipagen fuhren auf und ab, während das schattige Laub der Parkanlagen selbst eine Menge Fußgänger angelockt hatte. Da kam plötzlich eine ganz ungewohnte Bewegung in die vor wenigen Minuten noch so ruhig Promenierenden. Ein großer Volkshaufe wälzte sich von oben die breite Hauptstraße herab, und die Equipagen drehten um und fuhren aus dem Wege, während die meisten der Fußgänger dem Schwarme ebenfalls auszuweichen suchten.
Zwei junge Damen, von einem Kürassieroffizier begleitet, blieben unschlüssig stehen und sahen den Weg hinauf.
»Wenn wir zurückgehen,« sagte die ältere von ihnen, »so verfehlen wir jedenfalls Papa, der gerade in dieser Stunde aus dem Ministerium kommt, und wir haben versprochen, ihm bis hierher entgegen zu gehen. Was kann das nur sein?«
»Jedenfalls irgend ein Meßzug,« erwiderte der Offizier, »wenn wir einen Augenblick in der Veranda jenes Cafés Schutz suchen, wird sich die Menge vorüberwälzen und verlaufen.«
Unter der mit allen möglichen Blumen und Pflanzen der Tropenwelt geschmückten Veranda fand sich so nach und nach in gleicher Absicht eine zahlreiche Gesellschaft von Herren und Damen ein, und wie sich dort eine Menge Bekannte trafen, sammelten sich plaudernd und lachend kleine Gruppen.
Unter einem in vollen Blüten prangenden Granatbaume hatte sich die junge, reizende Komtesse Melanie, die Tochter des Kriegsministers von Ralphen, mit ihrer jüngeren Schwester auf ein paar leichte Rohrfauteuils niedergelassen. Der Menschenschwarm stockte oben in der Straße, und es dauerte eine Zeitlang, bis er sich wieder in Bewegung setzte. Die junge Komtesse hielt einen Becher mit Erdbeer-Gefrorenem in den zarten Fingern, nur langsam dann und wann daran kostend, und neben ihr, beide Hände auf den zwischen seinen Knieen stehenden Pallasch gestützt, saß Graf Wolf von Geyerstein, Rittmeister eines Kürassier-Regiments in ***schen Diensten. Graf Geyerstein stammte aus einer alten, norddeutschen Familie und war ein deutscher Edelmann im schönsten Sinne des Wortes. Von ernstem, für seine Jahre vielleicht zu ernstem Wesen, mischte er sich dabei selten oder nie in die leichtfertigen Vergnügungen der Kameraden, und wenn ihn auch manche für stolz und kalt hielten, schlug doch ein für alles Gute warmes Herz in seiner Brust.
In diesem Augenblicke hatte aber die reizende Plauderin an seiner Seite den Ernst aus den edlen Zügen gebannt. Das offene, dunkle Auge hing lächelnd an den Lippen der schönen Nachbarin und lauschte, weniger dem Sinn, als dem Klange der Worte, die wie das Rauschen eines murmelnden Waldquells zu ihm drangen.
»Aber nun sagen Sie mir um Gottes willen, an was Sie jetzt gedacht haben!« unterbrach sich da Melanie, indem sie ihren kleinen Teller senkte und sich halb gegen ihren Nachbar wandte.
»Ich, Komtesse?« rief der Graf, halb erschreckt wie aus einem Traume auffahrend, und er fühlte dabei, daß er errötete, »wahrhaftig nur an Sie.«
»An mich?« sagte die Dame, ungläubig mit dem Kopfe schüttelnd, »und zweimal habe ich Sie indes gefragt, ob Sie den jungen Grafen Selikoff schon gesprochen, ohne daß Sie mir auch nur mit einer Silbe geantwortet hätten.«
»Und doch war ich nur bei Ihnen,« entgegnete mit herzlichem Tone der junge Mann. »Zürnen Sie mir nicht, daß ich den Sinn der gleichgültigen Frage dabei überhörte.«
»Gleichgültige Frage?« lachte die Komtesse, »und woher wissen Sie, Herr Rittmeister, daß mir die Frage oder vielmehr deren Beantwortung gleichgültig war? – Aber ich sehe, Sie sind heute wieder in einer verzweifelten Stimmung. Man muß erstaunliche Geduld mit Ihnen haben.«
»Und nicht wahr, Komtesse, die fehlt Ihnen?« lächelte der Graf.
»Darüber können Sie sich wahrlich nicht beklagen, und ich weiß gar nicht – aber was ist das?« unterbrach sich die junge Dame im nächsten Augenblicke selbst, als jene lärmende, wogende Menschenmenge die Straße herunter drängte. Einzelne Trompetenstöße wurden dazwischen laut, und der Graf selber horchte erstaunt auf.
»Ach, das ist herrlich!« rief die Komtesse Rosalie, Melanies jüngere Schwester, »das muß die Kunstreiter- und Seiltänzergesellschaft sein, Monsieur Bertrand mit seiner Truppe, der seine Tour durch die Residenz macht, um sich dem Publikum vorzustellen. Letzte Woche hat er auf dem hochgespannten Seile getanzt, und diesen Abend wird die erste Vorstellung in dem erst heute fertig gewordenen Zirkus sein.«
»Du bist ja sehr genau unterrichtet,« lächelte Melanie. »Haben Sie diesen Monsieur Bertrand schon gesehen, Herr Graf? Er soll in seiner Kunst ganz Ausgezeichnetes leisten.«
»Noch nicht, Komtesse,« erwiderte der junge Mann. »Ich liebe derartige Kunststücke nicht, und das Seiltanzen vor allem ist mir das Verhaßteste, Entwürdigendste für den Menschen.«
»Und weshalb? Gehört nicht ein außergewöhnlicher Mut dazu, um sein Leben in schwindelnder Höhe auf dem schwanken Seil zu wagen?«
»Es ist das kein Mut mehr, den ich in dem Manne gewiß ehren würde,« erwiderte der Rittmeister, »sondern nur eine verzweifelte Tollkühnheit, welche Glieder und Leben um wenige Taler, oft um Groschen preisgibt; ja nicht selten sogar kaum mehr als feige Furcht, durch Arbeit eine Existenz erringen zu müssen, die jedenfalls ehrenvoller wäre als solch ein Dasein.«
»Sie urteilen zu streng.«
»Ich glaube kaum. Es ist wenigstens meine Ueberzeugung.«
»Und doch fühlen sich die Menschen glücklich in ihrem Berufe.«
»Das kann ich mir kaum denken,« erwiderte kopfschüttelnd der Graf. »Aeußerlich mag es allerdings so scheinen; wer sie aber beobachten könnte, wenn sie sich unbeachtet wissen, möchte doch wohl ein anderes Urteil über sie fällen. Aber da kommen sie; ich kann wenigstens die wallenden Federn des Baretts oder Helms erkennen.«
Hunderte von Menschen drängten indessen lachend und erzählend vorbei, mit dem Zuge zu gehen und den Marsch mit anzuhören, den das gemietete Musikkorps blies, während andere wieder stehen blieben, die wunderlich gekleideten Gestalten an sich vorbei passieren zu lassen. So etwas sahen sie nicht alle Tage.
Und macht es nicht einen gar eigentümlichen Eindruck auf den Zuschauer, plötzlich, in dem wirklichen, bestimmt ausgesprochenen Alltagsleben, das ihn nach allen Seiten umgibt, und in dem ihn das geringste Außergewöhnliche schon störte, ja selbst im hellen, lichten Sonnenschein phantastisch aufgeputzten und geschminkten Menschen zu begegnen? Die unteren Schichten der Bevölkerung, mit den Kindern, freuen sich allerdings darüber. Sie sehen nur die äußere Hülle, das Flittergold und die wallenden Federn, die gestickten Wämser und bunten Farben. Den Gebildeten überkommt bei solchem Anblick aber fast immer ein eigenes unbehagliches Gefühl – nicht der Bewunderung etwa, sondern eher des Mitleids mit den Unglücklichen, die solcher Art, in ihrem glänzenden Elend, äußerlich stolz und guter Dinge, doch nur – »an der menschlichen Gesellschaft vorüber – den Pranger reiten.«
Weit anders ist es mit der Bühne. Hier wird uns ein abgerundetes und in sich fest stehendes Kunstwerk von Künstlern vorgeführt, und die phantastischen Trachten, die durch die Kulissen ihren wahren Hintergrund, durch die Lichter ihre richtige Beleuchtung erhalten, stören uns nicht, ja, sind sogar nötig, die Täuschung zu vollenden, die uns in andere Zeiten, andere Sitten versetzen soll. Ich rede hier freilich nicht von jener Entweihung der Kunst, dem neu aufgekommenen Unfug der Sommertheater, die zu den »Kunstreitern« schon den Uebergang bilden. – Hier dagegen, wo die Häuser, in denen wir selber wohnen, den Hintergrund formen und wir in eigener Person, sobald solche abenteuerliche Gestalten zwischen uns und aus ihrem Rahmen heraustreten, Mitspieler in dem Drama werden, schaut uns der Ernst des Lebens nur so viel greller aus solchem Spottgebild entgegen.
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