»Was? «, kam es von meiner Seite her.
»Komm mit! «, rief ich und sprintete los. Nach knapp dreiundzwanzigeinhalb Schritten, in einem besonders hügeligen, unübersichtlichen und felsigen Teil der Drachenberge blieb ich stehen. Ich schloss meine Augen und schnüffelte erneut. Der würzige Geruch war nun viel stärker, doch mischte ich darunter noch eine viel aggressivere Note, die mir die Haare zu Berge stehen ließ. Blut! Verzweiflung durchströmte meinen Körper, als ich die Geruchsnoten zu einem Gesamtbild zusammensetzte. Ich rannte los und erreichte nach einem kurzen Spurt schließlich einen steilen Abhang, auf dem eine schlaffe Gestalt des mir so bekannten Mädchens lag. Sie lag bewegungslos auf dem Bauch. Ein Säbel ragte ihr aus dem Rücken und frisches Blut sickerte zwischen der Wunde und dem glänzenden Metall hervor.
»Vila! «, sagte ich noch einmal, diesmal mit zittriger Stimme. Ob sie lebte oder nicht, konnte ich nicht sagen. Seitdem ich kein Dache mehr war, hatte ich keinerlei Herzschlag mehr hören können, außer vorhin bei dem Kampf, als meine Sinne sich seltsamerweise wieder verschärft hatten. Aber dafür hatte ich jetzt keinen Kopf. Schon fuhr meine Hand geistesabwesend zu dem edlen Griff der Waffe, um sie herauszuziehen.
»Das würde ich an deiner Stelle unterlassen! «
Ich wandte mich um. Der Magier kam mir langsam entgegen.
»Wenn du den Dolch in diesem Ödland aus der Wunde ziehst, wird sie verbluten! «
Ich richtete mich auf, und er nahm meine kniende Position ein. Seine Finger suchten die Halsschlagader des Mädchens und fühlten ihren Puls.
»Sie lebt, gerade noch so. Sie ist sehr schwach. «, diagnostizierte er.
»Und was sollen wir jetzt machen? «
Er blickte in die Ferne und ich folgte seinem wandernden Blick. Erst jetzt erkannte ich, wo wir uns befanden. Vor uns im schrägen Winkel lag die langgezogene Todesschlucht und etwas weiter nördlich auf einer kleinen Hochebene stand ein runder Turm.
»Erkennst du den Turm, dort hinten? Wir werden sie zu meinem
Meister bringen! «
Klasse! Noch einer von diesen Magiern! Aber um Vila zu retten, würde ich alle Hilfe entgegennehmen, die mir geboten würde, selbst von diesen Magiern. Derjenige vor mir griff bereits geschickt unter ihre Kniekehlen und ihren Oberkörper und hob sie hoch.
»Soll ich sie nicht…«, begann ich, da ich befürchtete, er könnte ihr etwas antun oder sie fallen lassen.
»Nein! «, erwiderte er nun leicht keuchend. Ich erwiderte nichts, obwohl ich es nicht gern sah, dass ein Fremder das Mädchen trug, was ich mochte. Aber nun, durch die Gefahr des Todes beflügelt, lief er deutlich schneller und ich hatte etwas Mühe ihm zu folgen. Schon bald hatten wir die gefährlichen Ränder der Todesschlucht hinter uns gelassen und gingen geradewegs auf einem kleinen Pfad auf den Turm zu, der nun dicht vor uns lag. Er war nicht besonders groß: zweistöckig mit einem flachen und roten Ziegeldach, an denen schon diverse Moose wuchsen. Der Magier öffnete die runde und kleiner wirkende Tür mit einem gemurmelten Zauberspruch und betrat den Turm. Ich folgte ihm, wenn auch möglichst unauffällig – hin und her gerissen zwischen der Gefahr, entdeckt zu werden und deshalb diesen Turm besser nicht zu betreten, und dem Wunsch, die Kleine unbedingt zu beschützen und deshalb das Wagnis einzugehen. Als ich in den runden Raum des Erdgeschosses eingetreten war, wich ich prompt zur Seite in den Schatten eines an die runde Wand angepassten und voll gestopften Bücherregals und verfolgte nun vollkommen unsichtbar das weitere Geschehen. In der Mitte befand sich ein alter Tisch, auf dem etliche Bücher lagen. Daneben hatte bis vor kurzem noch ein alter Mann auf einem Schemel gesessen, der sich jedoch erhoben hatte, als er die Geräusche der sich öffnenden und wieder schließenden Tür gehört hatte. Sein Gesicht blieb jedoch durch eine braune Kapuze verborgen.
»Raco? Was ist denn geschehen? «, fragte der Alte mit zittriger Stimme, als er sein Gesicht seinem Schüler mit dem bewusstlosen Mädchen zuwandte. Raco hieß der Knabe also!
»Ich habe sie in den Drachenbergen gefunden, Meister! «, antwortete nun der Angesprochene.
»Distaerecai! «, sagte der Alte und prompt wurden durch einen Luftstrom alle Bücher und Pergamentrollen vom Tisch gewedelt, so dass Raco Vila mit dem Bauch nach unten auf den Tisch legen konnte. Sofort kam der reichverzierte Dolch wieder zum Vorschein. Der Alte fuhr mit der Hand ganz nahe und ohne eine Berührung über den Rücken des Mädchens und über den Dolch.
»Weißt du, was geschehen ist? «, fragte er, während er sich scheinbar Vila anschaute.
»Nein, Meister. Wir haben Vila schon so gefunden. «
Der Alte zog zischelnd die Luft ein, als wäre er sich einer Sache nicht ganz sicher.
»Ich weiß nicht…«
»Könnt ihr sie nicht einfach heilen? «
»Nein! Dieser Dolch ist kein gewöhnlicher Dolch! Er stammt von einem Magier, der dem westlichen König sehr nahe steht. Dieser Dolch ist böse und trägt den Tod in sich, ausnahmslos! Aber ... Sie...«
»Was meint ihr damit, Meister? «
Der Alte antwortete nicht, sondern unterbrach seine Untersuchung und wich von Vila zurück. Dann griff er in die Luft und ein Fläschchen von einem benachbarten Regal flog in seine Hand. Er öffnete es und goss die Flüssigkeit, die wie einfaches, klares Wasser aussah, auf den funkelnden Knauf des Dolches. Die Flüssigkeit rann über den verzierten Griff, über das herausragende, glänzende Stück der Klinge und dann über ihre linke Seite auf den Tisch zu. Doch ehe sie auf das alte Holz traf, hatte der Alte geschwind eine Schale untergelegt, die restlos das Wasser wieder einfing. Die Flüssigkeit hatte sich nicht großartig verändert, außer dass sie nun durch das Blut einen rötlichen Schimmer bekommen hatte. Der Alte drehte sich um und griff nach einem Gefäß, welches scheinbar nur mit einfacher Erde gefüllt war. Dann griff er gewandt zu seinem Gürtel, zog ein Samenkorn heraus und steckte es fingertief in die Erde. Schon murmelte er einen Spruch und frisches Grün ringelte sich aus der Erde. Zum Schluss nahm er die Schale mit der leicht rötlichen Flüssigkeit und goss sie in den Blumentopf. Plötzlich bekam die Pflanze ungesunde schwarze Flecken und ehe man sich versah, zerfiel sie zu Asche. Raco sah mit verschrecktem Gesichtsausdruck auf den Blumentopf.
»Dachte ich es mir doch! «, sagte der Alte scheinbar zufrieden mit sich selbst, da er offenbar das mysteriöse Rätsel der unscheinbaren Klinge gelöst hatte.
»Meister! «, brachte Raco nur keuchend hervor.
»Magic Colochicum autumnale . Die giftigste, magischste Pflanze, die es auf der Welt gibt. Tötet ausnahmslos. «
»Aber warum wirkt das Gift nicht bei ihr? «, fragte Raco.
»Eine besondere Gabe lässt sie leben«, vermutete der Alte eher in den Raum als zu seinem Gehilfen. »Wichtig ist erst einmal, dass wir sie heilen! «
Kaum hatte der Alte das gesagt, schnipste er mit seiner dünnen Hand und der funkelnde Dolch fuhr aus dem Körper heraus, wobei das Blut spritzte. Dann verlief alles ganz schnell. Der Alte griff abermals zu seinem Gürtel, holte eine Hand voll mit schwarz glitzerndem Pulver hervor und ließ es mit leisem Gemurmel auf den Rücken des Mädchens fallen. Es war nicht das normale Gemurmel eines Zauberspruches, sondern etwas viel Mächtigeres. Tausende, geisterhafte Stimmen schienen sich in die leisen Worte des Mannes mit einzuweben und man hatte plötzlich das seltsame Gefühl, in einem kleinen Raum mit Tausenden Menschen zu sitzen, die sich alle flüsternd im Einklang unterhielten. Plötzlich erhellte ein gleißendes Licht den runden Raum und erlosch sofort wieder. Dann war es auch schon vorbei.
»Das sollte genügen. «, sagte der Alte mit seltsam geschwächter Stimme und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, mit einer Hand, die seinen schweren Kopf stützen musste. »Die Wunde muss zwei bis drei Mal geheilt werden. Ansonsten braucht sie nur noch Ruhe.«
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