Immer, wenn eine Rockband mit Sinfonikern zusammenspielte, war Größenwahn im Spiel. Das war bei Pink Floyd so, bei Emerson, Lake & Palmer auch und bei Deep Purple erst recht. Natürlich auch bei Metallica. Vom Speedmetal in schäbigen Headbangerclubs zum globalen Chartsphänomen mit 60 Millionen verkaufter Einheiten: Das steckt man nicht einfach weg. Da muss man seine Größe auch bestätigt sehen. Was das San Francisco Symphony Orchestra sich wohl bei diesem „Greatest Hits go Classic Metal“ denkt? Sein Leiter Michael Kamen hat immerhin Erfahrung mit den bösen Buben: Er arrangierte schon 1991 einen Metallica-Song. Das Orchester jedenfalls bläht den Klangkörper mächtig, es hält dagegen, wenn James Hetfield die Gitarre dengelt und Lars Ulrich die Felle verdrischt. Es funktioniert: Der Clash der Kulturen gebiert ein Klangmonster, das als Stadionereignis ebenso funktioniert wie als heimischer Belastungstest für die Boxen.
Michael Hutchence
„Michael Hutchence” (1999)
Eins vorweg: Das Album fleddert keine Leiche. Als der INXS-Sänger am 22. 11. 97 stranguliert aufgefunden wurde, wusste keiner so recht, wie weit das 1995 begonnene Solowerk gediehen war. Die Produzenten Danny Saber und Andy Gill beendeten das Projekt jedenfalls „in seinem Sinne“, wie es heißt. Und der Sinn stand Hutchence offenbar nach echtem Popappeal, nach einem großen Wurf, der seiner Solokarriere ein möglichst breites Erfolgsfundament liefern sollte. Thematisch wird’s oft sehr privat: „Put the Pieces back together“ etwa ätzt gegen den feindlichen Rivalen Bob Geldof. Grooves und Klänge erinnern oft an den technifizierten Pop der späten U2, und Bono, der Sänger für wirklich alle Fälle, singt denn auch jene Zeilen von „Slide away“, für die Hutchence keine Luft mehr hatte. Dennoch: Das Album ist glatt, bisweilen überladen und wohl mühsam auf Länge gebracht – und nur die schaurige Aura des Postumen scheint ihm die richtige Tiefe zu geben.
Michael Wells presents S.O.L.O.
„Out is in” (1999)
Musik wie diese war vor 15 Jahre noch unvorstellbar. Nicht nur klanglich, auch kompositorisch. Der Eigenanteil des „Musikers“ geht gegen Null. Nahezu komplett besteht sie aus Partikeln fremder Quellen. Michael Wells durchstreift als Sammler die Welt, nicht nur entlang der Genres, auch in der Zeit. Hier hebt er einen Swingsplitter auf, dort zwei Orchestersekunden. Dann geht er drüber mit Scratching, Beatbox und Klarlack, entstaubt, bestäubt, verfremdet und pappt zusammen, was nie davon träumte, zusammengehören zu müssen. Und am Ende entsteht aus lauter Altem etwas ganz Neues, etwas geradezu Organisches. Tanzbare Postmoderne auf höchstem Niveau.
Midnight Choir
„Amsterdam stranded” (1999)
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet eine etwas trantütige Salonmusikcombo je stilbildend werden würde? Doch es geschah. Die Tindersticks brachten Langsamkeit und Leidenschaft in den Indiepop, und sogar die Vollbremsung der Seattle-Band Walkabouts geht teils auf ihr Konto. Ohne sie gäbe es wohl auch Midnight Choir nicht. Droben in Norwegen übt sich das Trio in süßer Selbstqual zu Klavier, Gitarre und Orgel. Ihre Zeit läuft zäh, wir spüren jeden Ton und jedes Gran Traurigkeit – und all das macht seltsam glücklich, gerade im Herbst. Produziert hat übrigens – Walkabout Chris Eckman. Das nennt man dann wohl Metaebene.
Ihre Komposition „Minsc“, finden Mina, sei im Grunde endlos spielbar. Und genau so lange möchte man sie auch gerne hören. Aus einer simplen, ständig wiederholten Melodie, die dem Prinzip von Aufstieg und Abschwung folgt – wie beim Skifliegen –, entwickeln sie mit Orgel und beharrlichen Housedrums einen tranceartigen Sog, dessen Verführungskraft über die vollen neun Minuten Laufzeit anhält. Die vier Berliner besetzen ein bisher kaum beackertes Feld zwischen Disco, House, Jazz und Postrock, dessen Atmosphäre aus Wärme und Endzeitstimmung unlängst erstaunlich gut ins Vorprogramm von Calexico passte. Im Bunker brennt noch Licht.
Mogwai
„Come on die young” (1999)
Dieser Zeitlupenrock aus Glasgow verschafft einen das Gefühl, als tauchte man in einem See aus Honig. Bei jedem Zupfen einer Saite wird man Zeuge eines kleinen Knirschens, eines Schabens vorweg. Mogwai erlauben uns, jeden Ton, jeden Takt genau zu hören – und zu sehen. Kronzeuge rockmusikalischer Entwicklung ist man selten geworden heutzutage, wo die Täuschung durch Masse oftmals fehlende Klasse übertüncht. Nicht bei Mogwai: Durch diesen Klang sehen wir hindurch bis in die fernste Ferne – als sei der Honig klar wie Wasser. Ein großes Album, weniger dynamisch als der Vorgänger, doch episch wie noch nie.
Monty Alexander
„Stir it up – The Music of Bob Marley” (1999)
Es hätte dieser Platte nicht bedurft, um Marleys Rang als Komponist zu unterstreichen. Doch in Zeiten, da jeder, der um acht Ecken mit dem Reggaekönig verwandt ist, mit dem Namen „Marley“ seine kümmerlichen Musizierversuche aufzuwerten sucht, ist es gut, mal wieder das Wahre, Schöne, Gute präsentiert zu bekommen. Der jamaikanische Jazzpianist Monty Alexander tut das auf einem Silberteller. Hier wird Marleys Reggae zur Barmusik, aus großer Kiffermucke wird ein süffiger Cocktail – der die Einfachheit manch Marley’scher Melodie sogar noch betont, anstatt sie mit Jazzerattitüde zu verkomplizieren. Dies ist keine kritische Ausgabe, eher eine perlende Festmusik – lächelnd vorgetragen.
Natural Born Hippies
„Popshit” (1999)
Heilige Kühe sollte man nicht schlachten, man sollte sie nicht mal berühren. Ach was: nicht mal denken ans Berühren. Oder … ? Ray Davies’ Song „Lola“, längst heimisch im kollektiven Gedächtnis, ist so eine heilige Kuh. Und den dänischen Natural Born Hippies ist das schnurzpimpe. Sie drehen ihn mit Kastratengesang durch den Glampop- und Groovefleischwolf und haben am Ende eine verblüffende Neudeutung hingelegt, in der das Augenzwinkern des Ray Davies zum lustigen Lidgeklimper einer Transe von heute wird. Diese wilde, witzige fetttriefende Breitwandidee des Pop zieht sich quer durchs Debüt des Kopenhagener Quartetts. Am Ende stehen wir da wie begossene Pudel und grinsen. Und überall tropft es vor Popshit, der aber nicht schlecht riecht. Im Gegenteil.
Nick Lowe
„The Doings” (1999)
Wäre das Booklet noch ein wenig besser ausgestattet, etwa mit Songtexten und weniger doppelt und dreifach gedruckten Fotos, dieser Viererbox wäre die erste Höchstwertung des Jahres sicher. Musikalisch eh: Der britische Songwriter gab einst der New Wave eine kräftige Rock’n’Roll-Injektion, erforschte mit Dave Edmunds unterm Namen Rockpile sämtliche Möglichkeiten der Dreiminutenform, ehe er in ruhigere Fahrwässer geriet und mit umwerfenden Balladen wie „Faithless Lover“ die meisten Crooner in die Tasche steckte. Lowe ist eins der raren Genies des Rock, einer, der kaum je einen durchschnittlichen Song geschrieben hat. Diese Anthologie würdigt ihn so, wie es mit nur 86 (!) Stücken eben möglich ist. Pflicht fürs Archiv.
Oliver Shanti & Friends
„Tibetiya” (1999)
Warum sein Ethnomix immer so seicht sein muss, würden wir Meister Shanti gerne fragen, doch der Mann ist angeblich unablässig auf Reisen – offenbar, um exotischen Kulturen das Exotische zu stibitzen, es zu New-Age-Muzak zu verarbeiten und dann an westliche Esofreaks zu verfüttern. Auch „Tibetiya“ hat höchstens funktionellen Nährwert: Die CD soll Tai-Chi-Übungen begleiten – und ist perfekt für Leute, die vor lauter Bachblütenträumen nicht merken, dass sie unter genau den Geschmacksentgleisungen leiden, die sie dem Musikantenstadl wahrscheinlich kopfschüttelnd vorhalten würden. Kurz gesagt: Shantis Musik hat mit asiatischer Spiritualität so viel zu tun wie Nicoles „Ein bisschen Frieden“ mit Außenpolitik.
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