Paul Westerberg
„Suicaine Gratification” (1999)
Er selber nennt es „fucked-up folk music“. Die schlechte Laune des Paul Westerberg ist jedoch nicht zu unserem Nachteil. Die meisten der noch aus Replacements-Zeiten übrigen Rockelemente warf er weg, um intime Gefühlsstudien zu Piano und Akustikgitarre für sich stehen zu lassen. Das Prinzip seiner letzten Folkrockplatte „Eventually“ – keine Soli, viel Seele – ist nunmehr, mit Ausnahmen, unter Ägide des Produzenten Don Was auf den schütteren Kern verdichtet. Kein Problem, da Westerberg die große Kunst des kleinen Songs eh so beherrscht, wie es wohl nur ein US-Schreiber kann. Von wilden Punkanfängen zur abgeklärten Melancholie des Folk: eine ähnliche Biografie hat höchstens noch einer vorzuweisen, und der teilt mit ihm den Vornamen: der Brite Paul Weller. PS: Kann mir mal jemand den Albumtitel erklären? Danke.
Pauline Taylor
„Pauline Taylor” (1999)
Seit Joan Armatrading hat keine Sängerin mehr die hohe Kunst des Songwritings so elegant mit Soul verschmolzen wie Pauline Taylor. Im Vorprogramm von Faithless verblüffte sie das Publikum mit hoher Musikalität und kraftvoller Stimme; damals wusste aber noch keiner, dass sie ein Multitalent ist, Songs wie den Ohrwurm „The Letter“ selber schreibt – und dafür sorgen könnte, dass der eh wacklige Ruhm einer Marla Glen oder Des’Ree bald verblasst. Hiermit wird öffentlich prophezeit: Pauline Taylor wird reich, berühmt und unser aller Liebling. Und alles zu recht. Zumal der Rückhalt der Faithless-Posse dies kaum behindern dürfte.
Pavement
„Terror Twilight” (1999)
Man könnte es abwechslungsreich nennen. Oder wirr. Vielfältig. Oder ziellos. Je nachdem, ob man Stephen Malkmus & Co. freundlich gesonnen ist oder nicht. Denn objektive Kriterien für das Konzept der Amerikaner zu finden, ist schwer. Bei den Silver Jews reißt er sich ja am Riemen, hier lässt er ihn schleifen. Ähnlich übrigens wie seine Britpopkumpels von Blur, mit denen er 1998 rumhing, um zu lernen, wie man richtige Songs schreibt. Das waren just zu dieser Zeit leider die Falschen. Jetzt haben beide ein ratloses Album im Kasten. Oder ein schillerndes. Pavement jedenfalls grasen zwischen Folk und Noise alles ab und stoßen doch nicht vor zu einem tragfähigen Gerüst für ihre Songs. Wirre Vielfalt, ziellos abwechslungsreich.
Peshay
„Miles from home” (1999)
Es geht los mit Drum & (Steh-)Bass, der durchzuckt wird von Orchesterfetzen und (gefälschtem?) Beifall, dann wird es plötzlich ganz und gar akustisch, ein quicklebendiges Klaviertrio stürzt sich in die wunderbare Welt des puren Swing, der Club kocht, und alle Wurzeln liegen plötzlich frei – ehe eine weitere wichtige Koordinate zum Zug kommt: der HipHop. Da fehlen nur noch zwei, und Paul Pesci alias Peshay, ein ganz früher Kumpel Goldies und gewissermaßen Miterfinder des Drum & Bass, zaubert natürlich auch Funk und Soul noch aus dem Ärmel. In diesem Bezugssystem wuselt er herum wie ein emsiger Hamster und pappt alles mit den richtigen Klebern zusammen: Schlagzeug, Bass. Dadurch wird diese scheinbar zerfaserte CD zu einem Album wie aus einem Guss. Und es gibt einem den Glauben an die Zukunft eines Genres wieder, das man längst im Koma wähnte.
Peter Green Splinter Group
„Destiny Road” (1999)
Erstaunlich an Peter Greens zweiten Album mit der Splinter Group ist nur eins: dass sich das Gitarrengenie wirklich dazu aufgerafft hat. Sollte er etwa wieder richtig auf die Beine kommen? Immerhin komponiert er sogar wieder, wenngleich nur einen neuen Song; den Rest steuern die Kollegen bei; sein zweiter, „Tribal Dance“ – das sagt das Booklet nicht –, stammt schon aus den 70ern. Und er ist der beste auf der Platte. Die Splinter Group spielt konventionellen Blues; zu einer eigenständigen Form wie einst, als Green eine bluesinspirierte Instrumentalform ohnegleichen fand, findet sie nicht. Nur bei „Tribal Dance“. Und da lege ich mir ganz wehmütig lieber „In the Skies“ auf, Greens Comeback aus den 70ern. Time waits for no one, aber Green lebt und arbeitet. Und das ist – unabhängig von der minderen Qualität dieses Albums – ganz und gar wunderbar.
Phil Collins Big Band
„A hot Night in Paris” (1999)
Man könnte Phil Collins, dem kleinsten Nenner des Megamainstream, ja unterstellen, dass er im Herzensgrunde nichts lieber täte, als Jazz zu spielen. Schon damals, Mitte der 70er, hatte er neben Genesis noch ein Jazzprojekt laufen, obwohl ihm der damalige Genesis-Sound gewiß genügend Freiräume bot. Seine Nebenband Brand X jedenfalls begeisterte mit artifizieller Grenzgängerei, und ihr einstiges Verhältnis zu Genesis entspricht exakt dem aktuellen von Pop-Phil und Big-Band-Collins: „A hot Night in Paris“ ist nämlich genau nicht, was der Titel sagt, sondern ein geschmackvoll goldschimmernder Abend mit viel Blech und noch mehr Attitüde. Kühle Perfektion statt kochender Ekstase. Aber kein Mensch hätte etwas anderes erwartet.
Philipp Anz, Patrick Walder (Hg.)
„Techno” (1999)
Der komische Anglizismus im Titel des Einführungskapitels – „Die Geschichte von Techno“ – lässt nichts Gutes ahnen. Und siehe da: Das Taschenbuch ist lediglich die überarbeitete Neuauflage eines 1995 erschienen Buchs. Die Mehrzahl der Texte ist auf dem Stand von 1994 – fünf Jahre sind historische Welten in einem Genre, das gerade mal doppelt so alt ist. Jungle ist hier der letzte Schrei – danach kamen Drum & Bass, Big Beats, Downbeat, Electronic Listening, Freestyle, Lounge usw. usw. Die peppige, zugängliche Machart dürfte so kaum ausreichen, die junge, trendorienterte Klientel zu packen. Und Genreforschern ist die Reflexionsebene sicher zu niedrig.
Pia Lund
„Lundaland” (1999)
Es prägt halt, das Musesein. Lund war lange Zeit Kunst- und Lebensgefährtin des arroganten Genius Philip Boa, ehe beide sich verkrachten. Doch irreparabel scheint der Terz nicht gewesen zu sein, denn bei einem guten Drittel der Songs ist Boa mit im Spiel. Alle Beteiligten tun ihr Bestes, eine deutsche Madonna zu schaffen: mit elektronischem Brimborium, modernen Beats und viel ätherischem Hall auf Pias Stimme überfrachten sie das „Lundaland“ zu einem Pseudowunderland des Pop, das mit aller (sanften) Gewalt erfolgreich sein will. Beim Hören aber wird man nie den Eindruck los, ein reines Kunstprodukt vor sich zu haben, eine Lara Croft des Pop. Ein Album wie ein Hollywood-Film: larger than life, aber auch an vielen Stellen hohl. Ganz bewältigt scheint indes auch die Trennung nicht: beim Dankesagen im Booklet kein Boa, nirgends.
Die Sounds sind dürr und zerbrechlich, geformt aus den Schlieren und Schleifen einer bizarren Welt knisternder Auslaufrillen und zirpender Filter – analoge Fehler als Quelle digitaler Wunderländer. Stefan Betke verarbeitet das Knacken und Schaben wie ein Bildhauer, der aus dünnem Draht Abstrakta biegt. Und hinter diesen Rhythmen, die er nun auch mit einem Dubbass unterstützt, tun sich manchmal elektronische Tiefen auf, die uns auf eine Weise frösteln machen, wie es das reine Nichts nicht weniger könnte. Sein zweites Werk unterm Pseudonym Pole ist nicht so eisig wie sein Debüt, doch auf zugänglichere Weise ebenso faszinierend. Und liefe das Album länger als kurze 33 Minuten, wir wären seinem Bann vielleicht nie mehr entronnen.
Praga Khan
„Twenty First Century Skin” (1999)
Maurice Engelen ist Belgier, trägt den Großmeistertitel Praga Khan und hat als Kind seine Schultasche verkauft, um sich eine Stranglers-CD leisten zu können. Sagt er, weil auch im Dance inzwischen biografische Legenden gefragt sind. Dass seine Musik dennoch nicht nach „Golden Brown“, sondern nach Technosdisco klingt, liegt halt an den Zeitläuften. Aber irgendwo in seiner Kiste mit Lieblingsklängen hallen noch die Gitarren seiner Schulzeit nach, und deshalb verbindet er manchmal lustvoll den kühlen Puls des House mit kratzigen Synthiesounds, die von fern an Saitenquälereien erinnern. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Megafusion von Pop, Rock und Dance.
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