Ist das Wort der Lipp' entflohen,
Du erreichst es nimmermehr,
Fährt die Reu' auch mit vier Pferden
Augenblicklich hinterher.
Kurz, als Alfred Falkner wenige Stunden später der Hauptstadt entgegenfuhr, zur Übernahme seiner Pflichten, da nahm er mit sich das unbehagliche Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst. Einsamkeit verleitet gern zu einer Prüfung von Herz und Nieren auch gegen den Willen dessen, der diese Prüfung lieber umgehen möchte – und so musste Falkner sich denn sagen, dass sein Betragen Dolores gegenüber ein selbstgeschmiedeter Panzer war gegen die schwarzen Augen und die goldroten Haare, die er so oft antipathisch genannt, und die dennoch einen Zauber auf ihn ausübten, den er gern als unheilvoll bezeichnet hatte. Er erschrak bis in sein Innerstes hinein, als das allezeit der Wahrheit zuneigende Herz ihm diese Falte zeigte.
„Ich werde niemals diesem Zauber, dem Zauber einer Satanella unterliegen“, sagte er laut vor sich hin, als wollte er ein Gelöbnis aussprechen. Und im nämlichen Momente noch durchzuckte ihn der Gedanke: Ob sie Keppler wohl abgewiesen oder ermutigt habe?
So ist das Menschenherz – es hat alles in ihm Raum, selbst die scheinbar krassesten Gegensätze, selbst die ungleichartigsten Gefühle, dessen war Falkner sich voll bewusst, und doch musste er fast erleichtert hinzufügen: „Ich glaube nicht, dass sie ihn ermutigt, er sah allzu gebeugt aus. Armer Tor!“
Er nannte es also eine Torheit, Dolores zu lieben; doch in diesem Punkte waren große Helden von ihren Piedestalen herabgestiegen, um neben ihrer Größe ein wenig Mensch zu sein und dem Herzen sein Recht zu gönnen. Nein, Falkner fühlte, dass er heute zu keiner Ruhe gelangen konnte, und so nahm er zu dem alten Vorurteil seine Zuflucht und panzerte sein Herz damit: „Nein, es geschah ihr recht! Wie konnte sie es wagen, mir ein Geschenk anzubieten!“
Er hatte so unrecht nicht, wenn er sich überhaupt gegen seine eigenen Gedanken rüsten wollte, die alten Vorurteile dazu zu wählen, denn diese sind ein Harnisch, durch den bis jetzt noch kein Vernunftgrund siegend gedrungen ist, und so hatte er denn wenigstens den Triumph der Selbsttäuschung, mit dem er sich gegen seine eigenen unbequemen Gefühle und Gedanken wappnen konnte. –
Dolores stand, als sie Falkner die Tür hinter sich schließen hörte, starr, bleich und bewegungslos an dem Fenster des Turmgemaches. Die klare Maienluft kam herein zu ihr und umfächelte ihre blassen Wangen, spielte mit dem krausen Haar über ihrer Stirn und brachte mit sich ganze Duftwellen von den Narzissen und Veilchenbeeten drunten auf dem smaragdgrünen frischen Rasen. Sie spürte nichts davon, sie spürte nur das Weh in sich, das die Verachtung bringt, sie spürte nur den Schmerz der scharfen, bösen Worte, die sie gehört. Und als das Weh seine erste Kraft abgestumpft, da fragte sie sich nach dem Warum, das es verursacht, aber die Antwort blieb aus, und auch sie panzerte sich gegen das ihr Geschehene mit dem Panzer ihres Stolzes und ihrer Würde. Aber unter dieser Eisenhülle wollte das Weh doch nicht schlafen – es war einmal geschehen.
Und hüte deine Zunge wohl,
Bald ist ein böses Wort gesagt –
Ja, das böse Wort – es ist so leicht, so schnell gesprochen, vielleicht ohne die Absicht, unheilbar zu verletzen, und doch schlägt es eine tiefe, tiefe Wunde, in der es unberechenbar wirkt, bis es das Leben vergiftet hat und die Freude am Leben getötet, und nur noch das stille grüne Kirchhofsgras Heilung bringen kann.
Dolores atmete tief auf und strich mit beiden Händen über ihre Stirn, die trocknen, brennenden Augen für einen Moment schließend und zuhaltend.
So ist der Würfel gefallen, dachte sie. Wie schnell doch alles im Leben wechselt! Und dann wandte sie sich ab, durchschritt den prächtigen Rokokosalon und trat in die Bildergalerie ein. Dort suchte ihr Blick das Bild der „bösen Freifrau“, der Heldin von Mamsell Köhlers Geistergeschichte, und wieder war sie wie vorher überrascht von ihrer eigenen Ähnlichkeit mit der Ahne, die gar nicht böse, sondern nur so todestraurig aussah und mit den schwarzen, glanzlosen Augen beredt herabblickte auf ihr Ebenbild, die letzte Freiin von Falkner.
„Ich muss Näheres über sie erfahren“, gelobte sich Dolores, seltsam angemutet durch das Porträt.
Dann schritt sie weiter, durch das kleine, jetzt zur Bücherei gemachte Gemach und betrat das schöne, luftige Schlafzimmer, vor dem sie so gewarnt worden war. In dem Vorzimmer mit den Eichenschränken hörte sie Schritte – es waren Ramo und Mamsell Köhler, die den kleinen Koffer, den sie mitgebracht, auspackten und dessen Inhalt passend in den Schränken verteilten.
„Ramo“, sagte sie, auf der Schwelle stehend, „ich habe Aufträge für dich!“
„Ja, Senora“, erwiderte der alte Diener, seiner angebeteten Herrin in das Schlafzimmer folgend; dabei wollte er die Tür schließen, aber Dolores bedeutete ihn in spanischer Sprache, dass dies nicht nötig sei.
Da haben wir's, dachte die kleine Beschließerin entrüstet, da haben wir die babylonische Sprachverwirrung auf dem Halse, sodass kein Christenmensch verstehen kann, was geredet wird. Da können die da drinnen ja den Tod von einem besprechen, ohne dass man es weiß, und von Geheimnissen erfährt man überhaupt kein Jota mehr!
Trotz dieses für sie sehr betrübenden Faktums machte sich Mamsell Köhler doch noch einiges in dem Kabinett zu schaffen, denn, man konnte ja doch noch irgendein verständliches Wort aufschnappen, wie sie sich klassisch ausdrückte.
„Ramo, du wirst heute noch mit dem Nachtzuge nach B. zurückreisen“, sagte Dolores freundlich auf spanisch. „Dort sagst du Tereza, sie soll meine Sachen packen und sich bereit machen, mit dir so bald als möglich hierher zu übersiedeln. Während sie packt, gehst du zu dem Generalintendanten und gibst dort den Brief ab, den ich dir übergeben werde. Mein Urlaub läuft morgen ab, und du musst die Konventionalstrafe zahlen, die auf meinem Kontraktbruch für den Rest der Saison steht.“
„Sehr wohl“, erwiderte Ramo, dessen schnelles, echt südliches Begriffsvermögen ihn zu dem Geschäftsführer seiner Herrin gemacht, „Senora werden also das Theater verlassen?“
„Es wäre unziemlich, während der Trauer um den Freiherrn aufzutreten“, sagte sie sinnend, „also muss ich wohl dieser Rücksicht ein Opfer bringen und der Bühne entsagen. Mein Flügel muss sehr bald hergeschafft werden, Ramo, ich bedarf seiner dringend, und vergiss nicht, den Kasten mit dem Schmuck selbst an dich zu nehmen!“
„Ich werde ihn zu mir in den Wagen nehmen, wie immer, Senora“, entgegnete der Brasilianer. „In einer halben Stunde werde ich reisefertig sein“, fügte er respektvoll sich verbeugend hinzu.
„Gut! Du magst dir dann den Brief an den Intendanten abholen!“
Ramo entfernte sich, und Dolores trat in das Kabinett, das inkrustierte Schreibpult von Ebenholz entgegenzunehmen, das Fräulein Köhler eben auspackte und bewunderte.
„Ich muss für Ramo, der in meinem Auftrage verreist, einen Brief schreiben“, sagte sie und fügte hinzu: „Da ich mich entschlossen habe, fürs Erste auf dem Falkenhof zu bleiben, so hoffe ich, dass Sie, Fräulein Tinchen, trotz des Ihnen von dem Freiherrn hinterlassenen Legates, in Ihrer alten Stellung verbleiben und dieselbe in der mir bekannten und sehr geschätzten Treue und Zuverlässigkeit weiterverwalten werden.“
Über das Gesicht der kleinen, verwitterten Person flog ein verklärender Freudenstrahl – sie hatte im geheimen ihre Entlassung gefürchtet.
„Oh“, knickste sie, „wenn gnädige Baronin die Güte haben wollen, mir ferner das Leinenzeug, Silber und die Bewirtschaftung des Haushaltes anzuvertrauen – ich bleibe nur zu gern, denn ich bin auf dem Falkenhof aufgewachsen und grau geworden. Da wird das Scheiden schwer, und die Tätigkeit ist mein Leben – müßig, würde ich sterben –“
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