Er nahm das Foto aus dem Sekretär. Bei dieser Gelegenheit kontrollierte er sogleich, ob seine Walther P99 noch an ihrem Platz war. Jungfräulich und gefährlich ruhte sie in ihrem Samttuch.
Marius schloss schnell die Schublade und blickte auf das Foto der Fremden in seiner Hand. Ein faszinierender Blick. Die Frau wirkte ebenfalls … gefährlich. Wem hatte sie so zugesetzt, dass er ihren Tod sosehr wollte? Sie musste ihm gründlich das Leben versaut haben. Ihm? Oder ihr? Vielleicht war es ja gar kein Mann, der hinter diesem Auftrag steckte, sondern eine Frau. Frauen waren schließlich besonders nachtragend, gerissen und radikal. Vielleicht war der von Flavio Montano als „Konsul“ Bezeichnete eine Konsulin.
Marius legte das Foto neben das Gemälde auf den Tisch. Das Ölbild war nur wenig größer als ein herkömmlicher Briefbogen. Das Foto war etwa halb so groß. Zwei Frauengesichter: eins in Öl, mit geschlossenen Augen, zu hoher Stirn, harten Zügen und langen dunklen Haaren, das andere mit einem kühlen blauen Blick unter dichten Wimpern, sanften Zügen und langen dunklen Haaren. Die eine Frau verewigt in Öl und unbekannt, die andere zum Sterben verurteilt und unbekannt. Zwei namenlose Frauenbilder.
Marius schenkte sich einen Wodka ein und trank. Auf sein abendliches Training würde er heute verzichten, nicht aber auf Musik. Mit der Fernbedienung wählte er im Player eine beliebige Zahlenkombination. Kurz darauf erklangen die ersten Takte eines Songs von den Dire Straits. „Brothers in Arms“.
Marius betrachtete erneut die Frau auf dem Foto und bekam eine Gänsehaut. Er schaute sie an und sie schien zurück zu schauen, als ob sie sagen wollte: „Komm nur!“
Dann blickte er wieder auf das Gesicht in Öl, die Frau mit den geschlossenen Augen. Sie wirkte wie … tot.
Schnell wanderte sein Blick zurück zum Foto. Er versuchte sich die Unbekannte mit geschlossenen Augen vorzustellen. Es wollte ihm nicht gelingen, und gleichzeitig wurde er neugierig. Neugierig, wie sie wirklich schaute und wie sie mit geschlossenen Augen aussah.
Er trank und schenkte sich nach. Dann wechselte die Musik und ein weiterer Titel der Dire Straits ertönte: „Money for Nothing“.
Marius leerte sein Glas, atmete tief durch und stopfte Montanos Euro-Scheine zurück in den großen Umschlag. Das musste aufhören. Er musste diesen Auftrag absagen, bevor der schmierige Südländer ihm das Geld in Koffern vor die Tür stellte.
„Hier ist die Adresse.“ Charlotte drückte einem der drei kräftigen Kerle Breuers Visitenkarte in die Hand. „Ihr macht nichts kaputt und lasst nichts mitgehen.“
„Hat der Typ Sie beleidigt, Lady?“ Einer der Jungs zählte erneut die Geldscheine, die sie ihm überlassen hatte. „Für die Kohle können wir ihm auch ein bisschen die Fresse polieren.“ Er grinste.
„Nein, auf keinen Fall“, sagte Charlotte. „Ihr macht, was ich euch gesagt habe und seid um Punkt sieben Uhr verschwunden.“
„Geht klar.“ Der Typ tippte sich an seine Mütze. „Alles, wie abgemacht. Sie kennen uns doch!“
„Ich verlasse mich auf euch.“ Charlotte wandte sich um, stieg in ihr wartendes Taxi und nannte dem Fahrer eine Adresse in Berlin Mitte.
„Sind Sie Sozialarbeiterin oder so was?“, fragte der Taxifahrer, als er den Wagen an der nächsten roten Ampel zum Stehen brachte. „Wie Sie mit diesen Ghetto-Kids umspringen, ist ja toll. Die meisten Leute haben doch Angst vor denen.“
„Sozialarbeiterin? Ich?“ Charlotte schmunzelte. „Nun ja, so ähnlich könnte man das wohl bezeichnen.“ Sie sah hinaus auf das rege Treiben auf der Straße. Das Zeitfenster war zwar eng, aber ihr Plan war durchdacht.
Als das Taxi eine halbe Stunde später in Mitte hielt, war sie exakt pünktlich und wurde schon von ihrem Stammfriseur erwartet.
Eine Kopfmassage und ein bisschen Styling und sie fühlte sich gleich wie neu geboren. Sein Geplapper über die unglaublich geschmacklosen Hairstylings vieler Prominenter ließ Charlotte an sich vorüberziehen. Ebenso wie den angebotenen Sekt. Sie musste einen klaren Kopf bewahren heute Abend. Aber einem doppelten Espresso konnte sie nicht widerstehen. Schließlich war nicht abzusehen, wie lange sie heute ihren klaren Kopf bewahren musste.
„Sag mal, Charlotte, wollen wir dir nicht mal ein bisschen Rot gönnen?“ Der Friseur zupfte an ihren Haarspitzen herum und sah sie im Spiegel an. „Ich habe da was Neues in Richtung Kupfer. Das wäre genau das Richtige für dich.“
„Danke, nein.“ Charlotte erhob sich. „Für Farbexperimente habe ich heute keine Zeit. Beim nächsten Mal vielleicht.“
„Na gut.“ Er seufzte übertrieben. „Aber nicht, dass du eine graue Strähne entdeckst, bevor ich sie vertuschen kann.“
Charlotte zog ihre Kreditkarte hervor. „Das wäre natürlich ein Weltuntergang.“ Sie lächelte.
„Im Ernst, Charlotte.“ Der Friseur wuselte hinter den Tresen und rechnete ab, während er plauderte. „Ich weiß ja, dass du das nicht hören magst, aber immer diese konservativen Kostümchen und diese langweilige Langhaarfrisur. Ich könnte einen tollen Vamp aus dir machen. Du bist der Typ dafür!“
„Wenn du meinst.“ Charlotte nahm ihre Karte entgegen. „Ich komme zu gegebenem Zeitpunkt darauf zurück.“
Sie verabschiedete sich und verließ den Laden. Am Taxistand an der Ecke bestieg sie einen der Wagen und ließ sich zur nächsten Telefonzelle fahren. Es gab davon nicht mehr viele, aber Charlotte kannte die Orte, an denen noch öffentliche Fernsprecher zu finden waren, die sogar funktionierten.
„Warten Sie bitte kurz“, verlangte sie vom Fahrer, zückte eine Telefonkarte und wählte den Polizeinotruf.
„Guten Abend“, flüsterte sie in den Hörer. „Hören Sie, ich glaube, in der Wohnung meines Nachbarn sind Einbrecher.“ Sie schnaufte vernehmlich und wisperte Breuers Adresse. Als sie sicher war, dass die Adresse in der Notrufzentrale angekommen war, setzte sie „Bitte kommen Sie schnell!“ hinzu und hängte ein.
Dann stieg sie zurück ins Taxi und ließ sich zur Kanzlei chauffieren.
Um kurz nach sieben Uhr betrat sie ihr Büro. Wenige Minuten später klingelte das Telefon.
Wie geplant, bekam sie Franz Breuer um kurz vor acht Uhr auf dem Mobiltelefon zu fassen. Er war gerade auf dem Weg zu seiner Verabredung mit Staatsanwalt Ludwig Prinz.
„Franz, ich bin es“, rief Charlotte. „Du, die Polizei hat gerade angerufen. In deine Wohnung ist eingebrochen worden. Du sollst sofort nach Hause kommen!“
„Wie bitte?“ Breuer klang entsetzt. „Am helllichten Tag? Das ist ja ein Ding!“
„Ja, es tut mir leid“, sagte Charlotte. „Du sollst sofort kommen wegen der Anzeige, und um zu überprüfen, was fehlt.“
„Aber ich bin doch verabredet“, sagte Breuer gedehnt.
„Ach, Franz, mach dir keine Gedanken. Ich kümmere mich darum“, versprach Charlotte. „Die Sache mit dem Einbruch geht wohl vor. Die kann ich dir nicht abnehmen. Und ein Staatsanwalt hat dafür sicher Verständnis.“
Breuer seufzte. „Da hast du wohl recht. Wenn ich nur an den ganzen Kram mit der Versicherung denke …“
„Ja, und deine Plattensammlung“, legte Charlotte nach.
„Oh, mein Gott, die alten Hendrix-Scheiben!“, rief Breuer entsetzt. „Gut, ich fahre sofort nach Hause. Kannst du Ludwig Prinz Bescheid geben?“
„Sicher. Ich habe doch gesagt, ich kümmere mich darum“, erklärte sie.
„Charlotte, du bist ein Goldstück.“ Breuer klang erleichtert. „Du hast etwas gut bei mir!“
„Tschüs, Franz, und immer die Ruhe bewahren.“ Charlotte hängte ein. Dann stand sie grinsend auf, nahm ein schwarzes Kleid aus dem Schrank und zog sich flink um.
Bereits um Viertel nach acht betrat sie das Restaurant, in dem der neue Staatsanwalt seinen Scheidungsanwalt erwartete.
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