Sie schrie.
Kaltes Licht drang durch die Jalousie in ihr Schlafzimmer und schuf ein diffuses Grau. Angela Hansen fand sich sitzend im Bett wieder. Noch völlig in den Emotionen des Traums gefangen, fuhr sie sich mit fahrigen Händen durch die schweißnassen Haare. Sie tastete nach dem Wecker. Zehn nach fünf.
Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, das Grauen abzuschütteln, das ihr die Maden verursacht hatten. Die Maden und noch mehr der Gedanke an Nicky. Und in den Tiefen ihres Bewusstseins befand sich noch etwas, ein vages Gefühl erst, verschwommen und abstrakt, um dann zu einem Empfinden zu wachsen: Etwas stimmte nicht, genau wie im Traum zuvor. Irgendetwas Schreckliches war geschehen. Sie wusste es mit der gleichen Sicherheit, mit der sie atmete, Hände und Beine benutzte, ohne den konkreten Ablauf erklären zu können. Eine universelle Wahrheit, die nicht hinterfragt werden musste.
Das Telefon klingelte. Oder besser, es dudelte eine dieser modernen, atonalen Klangfolgen, von Misanthropen erdacht, um ihre Mitmenschen zu quälen.
Angela erstarrte. Obwohl sie halb mit einem Anruf gerechnet hatte, spürte sie die Angst so intensiv, dass sie wie gelähmt war. Sie ließ es klingeln, rührte sich nicht und hoffte insgeheim, dass es aufhören würde, wenn sie lange genug in ihrer Katatonie verharrte. Kein Läuten, keine schlechten Nachrichten.
Das Telefon klingelte weiter, fordernd und gnadenlos. Sie gab auf. Mit leicht zitternden Händen nahm sie den drahtlosen Hörer, drückte auf den Knopf und flüsterte ihren Namen in die Sprechmuschel.
»Angie, ich bin’s.«
Die vertraute Stimme von Peter Johnson, erstaunlich wach für die frühe Stunde. Ganz offensichtlich kein Whisky-Absturz am Abend zuvor, dachte sie. Und noch etwas registrierte sie ohne Zögern: Er klang besorgt, gestresst. Als wüsste er nicht, wie er das Folgende am besten ausdrücken sollte.
»Ich habe schlechte Nachrichten. Karl rief mich vorhin an, und ... ich wollte, dass du es von mir erfährst. Nicht von sonst ...«
»Rede nicht um den heißen Brei herum, Peter! Sag mir, was passiert ist!« Sie sprach den Namen englisch aus.
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Schließlich, mit einem Seufzer:
»Kerner ist draußen. Seit gestern. Sie haben ihn auf Bewährung entlassen. Gute Führung, keine Fluchtgefahr … Wahrscheinlich feiert er gerade mit Kaviar und Champagner seine Freiheit.«
Angela Hansen hörte nicht mehr hin. Apathisch drückte sie den Knopf zum Beenden des Gesprächs. Dann ließ sie das Telefon einfach aus der Hand gleiten.
Kerner entlassen. Der Mörder ihres Sohnes auf freiem Fuß. Das war undenkbar. Es durfte nicht sein. Auf Bewährung wegen guter Führung? ‚ Okay – ich hab zwar ein Kind getötet, aber es war ja eigentlich nur ein Unfall. Es tut mir ja auch leid ... Da ist man doch schon genug gestraft, oder?’
Welches Rechtssystem brachte so etwas fertig?
Es war wie ein Schlag in den Magen. Wieder einmal.
Sie fragte sich, wie viel ein Mensch ertragen konnte. Erst der Tod Nickys. Für sie war es Mord und nichts anderes. Die Tat eines narzisstischen Egozentrikers, in seiner Eitelkeit gekränkt, weil sein lautes Werben auf Taubheit gestoßen war.
Dann die demütigende Verhandlung, in der Kerners Anwälte ihre Rolle als Frau und Mutter genüsslich seziert hatten. Oh nein, sie waren nicht so plump gewesen, sie als Schlampe und Flittchen hinzustellen. Das nicht. Was sie taten, war wesentlich subtiler. Hier eine kleine Bemerkung, da ein Satz mit einem Fragezeichen, der genug Spielraum für eigene Interpretationen ließ.
Nicht, was sie sagten, ließ sie in einem denkbar schlechten Licht erscheinen. Es war vielmehr das, was sie nicht aussprachen.
Es war frustrierend und ernüchternd. Es machte ihr erneut schmerzhaft deutlich, auf welchem Fundament die Stellung der Frau gebaut war, in einer immer noch von Männern dominierten Welt. Ein Mann wie ihr Vorgesetzter Kerner, dem die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Ein Genie auf seinem Gebiet, Professor mit zweiunddreißig, gesellschaftlich geachtet und beneidet. Einer, der alles haben konnte. Was musste sie ihm angetan haben, um solch eine furchtbare Reaktion in ihm auszulösen?
War nicht sie es gewesen, die mit ihm ausgegangen war, freiwillig und nur zu gern bereit? Die kurz danach eine Gehaltserhöhung verlangte und nicht bekam? Die daraufhin den privaten Kontakt abbrach, sich bei der Institutsleitung über ihren Chef beschwerte? Ja? Interessant. Keine weiteren Fragen.
Doch, sie waren sehr geschickt gewesen. Hatten Fakten aus dem Zusammenhang gerissen und dafür andere Verknüpfungen geschaffen. Aus Halbwahrheiten und Andeutungen, in Verbindung mit dem Weglassen bestimmter Fakten, hatten sie ein cleveres Konstrukt geschaffen. Und das ließ keinerlei Zweifel an der wahren, der moralischen Schuld an dieser Tragödie.
Erst ungläubig staunend, dann immer verzweifelter und schließlich hilflos resignierend, hatte sie das alles verfolgt. Satte, selbstzufriedene Männer in gediegenen Anzügen, die ein Bild zeichneten, das sie auf ein skrupelloses, egoistisches und berechnendes Wesen reduzierte. Bereit, für die Karriere alles zu tun ohne die geringste Rücksicht auf etwas oder jemanden - und eingeschnappt und rachsüchtig antwortend, weil ihr Plan nicht aufging.
Das milde Urteil – Kerner wurde von einem verständnisvoll argumentierenden Richter zu zehn Jahren wegen Totschlags verurteilt – war dann nur die logische Konsequenz. Und letztlich der traurige Höhepunkt einer Verhandlung, die selten klar erkennen ließ, wer auf der Anklagebank saß und wer anklagte. Als sie versteinert das Gericht verließ, hatten sich zwei Dinge für immer in ihr Bewusstsein gebrannt:
Erstens die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit nicht erreicht werden konnte, wenn man auf ein System baute, das von Geld, Macht und Chauvinismus bestimmt wurde. Ein Modell, das Justitias Hallen zu einem Zeltlager der Willkür degradierte.
Und zweitens der kalte Glanz in den Augen des Mannes, der als Mörder ihres Sohnes den Rest seines Daseins im tiefsten Loch vegetieren sollte. Ein Killer, der stattdessen in wenigen Jahren wieder frei sein würde. Frei genug, um genauso weiterzumachen wie vorher: fordernd, nehmend, an sich reißend mit dem Unrechtsbewusstsein eines Raubtieres.
Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, auch jetzt nicht. Die Welt drehte sich weiter wie seit Jahrtausenden und in eben dieser Sekunde wurden andere Leben ausgelöscht. Unzählige Menschen wurden in tiefstes Leid gestürzt, Schicksale besiegelt, und so würde es immer weitergehen bis zum Ende aller Tage. Erstmals seit Jahren weinte Angela Hansen. Dicke Tränen rannen über ihr Gesicht und mischten sich mit Rotz und Speichel zu einem nicht endenden Strom von Verzweiflung und Trauer. Sie weinte um ihren Sohn und die verlorene Unschuld, die jedes Verbrechen mit sich bringt. Sie betrauerte ein junges ungelebtes Leben - und der Schmerz in der Kehle war so heftig, dass sie würgen musste und sich röchelnd und keuchend übergab.
Und ganz zum Schluss, als es nichts mehr gab, das sie auswürgen konnte, weinte sie lautlos auch ein wenig um sich selbst.
»Du kannst dich nicht auf Dauer verstecken, das weißt du?«
Peter Johnsons Stimme war sanft und einfühlsam, die grünen Augen voller Sorge. Der schottische Akzent klang immer noch ganz leicht durch, obwohl er den größten Teil seines Lebens hauptsächlich in Deutschland lebte.
Johnson war der leitende Kommissar bei der Untersuchung nach Nickys Tod gewesen, der Mann, der Kerner festgenommen hatte.
Jetzt, drei Tage nach seinem Anruf, saß er Angela in ihrem Wohnzimmer gegenüber. Sie im Schneidersitz zusammengekauert auf der Couch, die Ärmel des weiten Shirts bis über die Hände gezogen und zwischen den Beinen versteckt. Ein Häufchen Elend, die blonden Locken stumpf und glanzlos, zu einem lieblosen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Blau ihrer sonst so strahlenden Augen schien einem schmutzigen Grau gewichen zu sein. Tiefe Ränder zeugten von durchwachten Nächten, trüben Gedanken und zu vielen Tränen.
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