»Genug!«, schrie er den Agenten an. »Lassen Sie die Zwei endlich in Ruhe, Sie verdammter Sadist!«
Er wusste selbst, wie erbärmlich das war. Er war nicht in der Position, irgendetwas zu verlangen. Er war nicht einmal in der Lage, halbwegs gerade auf den Beinen zu bleiben.
Trotzdem wandte sich Hartmann ihm zu.
Immerhin, dachte Peter. Zumindest habe ich ihn von den Jungs ablenken können.
Das Gesicht des Dicken verlor jede gespielte Jovialität, als er Peter langsam von oben bis unten taxierte. Seine Mundwinkel zeigten direkt nach unten, was Peter absurderweise an einen Farmer auf dem Markt in Dounby erinnerte, den er als Kind beobachtet hatte. Genauso hatte der Mann geguckt, als er eine Kuh eingeschätzt und für minderwertig befunden hatte.
»Zu Ihnen, mein lieber Johnson, komme ich gleich noch«, sagte Hartmann und seine Stimme schien sich den äußerlichen Gegebenheiten anzupassen, so schneidend kalt war sie.
»Was also soll ich mit Ihnen allen machen?«, wandte er sich wieder der ganzen Runde zu.
»Einfach so gehen lassen? So ganz ohne jede Strafe? Mmmh…«
Er neigte den Kopf zur Seite, als würde er angespannt überlegen.
»Wie sollen Sie dann aus Ihren Fehlern lernen? Nein, eine kleine Strafe muss sein, als erzieherischer Effekt gewissermaßen.«
Zufrieden blickte er in die Runde, wartete auf Reaktionen. Alles, was er bekam, war eisiges Schweigen.
»Ich habe hin und her überlegt und mir den Kopf zermartert, wie ich Sie ungeschoren aus Ihrem Dilemma herausbekomme und trotzdem meinen Standpunkt klarmachen kann. Und wissen Sie was?«
Wieder sah er sie der Reihe nach fast freundlich an.
»Es geht nicht.«
Entschuldigend breitete er die kurzen, fleischigen Arme aus.
»Es geht einfach nicht«, betonte er und schaffte es, einen bedauernden Ton in seine Worte zu bringen.
»Also werden wir Sie doch alle töten. Wir werden Sie erschießen müssen wie tollwütige Tiere. Dann verscharren wir Sie hier irgendwo in diesen ungastlichen Feldern und bald wird kein Mensch mehr wissen, dass es Sie jemals gegeben hat. Also fangen wir an…«.
Hartmann strahlte über das ganze Gesicht, als er die Worte ausklingen ließ.
Diesmal war die Wirkung deutlich zu spüren, wie er zufrieden feststellen konnte. Die beiden Computer-Genies sahen aus, als würden sie sich gleich in die Hose machen. Selbst der riesige Typ, den er schon ganz zu Beginn hatte ausschalten wollen, zeigte Wirkung. Das Beste aber war Johnson, dieser verdammte Mistkerl. Der sah zu seiner Angebeteten hinüber, und schien geradezu zu zerfließen vor Schuldgefühlen. Das Leben konnte so schön sein.
»Und nun zu dir, Johnson. Knie dich hin!«
Peter rührte sich nicht.
»Knie dich hin, oder ich schneide deine Frau vor deinen Augen in kleine Scheiben«, sagte Hartmann eindringlich.
Langsam sank Peter auf die Knie. Seine Augen waren starr auf Caitlin gerichtet.
Hartmann trat näher, richtete die Waffe auf seinen Kopf.
»Viel zu schnell für dich«, sagte er bedauernd. »Aber wir haben schon zu viel Zeit vergeudet.«
Peter zwang sich dazu, dem Mann in die Augen zu sehen. Er sah nichts, das auf menschliche Regungen schließen ließ.
Er sah auch keinen Film vor seinen Augen ablaufen, keinen Zeitraffer seines zu kurzen Lebens. Nur eine große Leere, die ihn jetzt aufnehmen würde.
Er verspürte ein unendliches Bedauern. Für Caitlin. Für die Jungs. Für seine neuen Freunde Patrik und Malcolm. Für Angela.
Ganz kurz dachte er an das schlechte Gefühl, das er von Anfang an gehabt hatte. Vor gerade einmal zehn Tagen, als alles angefangen hatte.
Berlin, 10 Tage vorher
In der Dunkelheit des frühen Morgens starrte Peter Johnson müde auf das Display des Telefons. Was er gerade erfahren hatte, legte sich wie eine Schraubzwinge um seinen Brustkorb.
Kerner, der verdammte Mistkerl! Nach sieben Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Der Mann, der Angelas Leben für immer verändert hatte.
Und seins damit auch.
Der Kaffee vor ihm auf dem Tisch war längst kalt geworden.
Peter versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Vergeblich. Das Geräusch eines einzelnen Autos draußen zerriss die monotone Lautlosigkeit der Nacht. Die Scheinwerfer erhellten kurz das Zimmer, warfen sich bewegende Schatten an die Wand.
Dann wieder Dunkelheit. Und die Stille, durchbrochen nur vom leisen Ticken der Wanduhr.
Kurz nach vier. Noch lag Berlin im Tiefschlaf. Bis zum Dienstbeginn auf dem Revier hatte er drei weitere Stunden totzuschlagen.
Eine ganze Weile blieb er regungslos sitzen, bis die ersten Streifen von Licht den neuen Tag ankündigten.
Schließlich ertrug er das Ticken nicht mehr.
Wie ein Countdown ins Desaster, dachte er und wählte widerstrebend Angelas Nummer.
Er ahnte nicht, wie recht er damit hatte.
In ihrem Traum besuchte sie ihre Eltern, in ihrem alten Haus am Meer. Alles war wie früher in ihrer Kindheit. Das Kreischen der Möwen, die Brandung, die Weite, der Wind. Selbst den Geruch glaubte sie zu erkennen. Ihr Vater hockte in seinem Schaukelstuhl vor der Tür, den Blick zum Horizont gerichtet, ohne eine Regung. Man hätte ihn für tot halten können. Herrgott, er war tot, seit über zehn Jahren. Sie folgte seinem Blick, spürte etwas Erschreckendes, etwas, das an ihm nagte und irgendwie auf sie übergriff. Wie eine schreckliche Wahrheit, vom Vater an die Tochter weitergegeben nach alter Sitte, wenn die Zeit reif dafür war.
Doch da war nichts als das Meer, der Himmel und der Sand, vom Wind aufgewühlt und in Kaskaden hochgeschleudert, sich verteilend wie Sprühregen. Und doch gab es noch mehr, das sie fühlen, aber nicht greifen konnte. Ein Anflug von Panik, eine Welle von Fragen, die sich zu einem unbestimmten Objekt zusammenrauften. Fragen, die sie stellen wollte und nicht in Worte fassen konnte. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Hilfesuchend sah sie zu ihrem Vater. Aber da war nur noch der Stuhl, knarzend im Wind schaukelnd. Auf der Sitzfläche sah sie eine Bewegung, milchig weiß und grau und unförmig. Irritiert sah sie genauer hin. Hunderte von Maden ringelten sich auf der Suche nach Nahrung. Und dann – sie wusste selbst im Traum, wie unsinnig das war, aber es änderte nichts an dem realen Schrecken, den sie empfand – entdeckten sie sie. Die Masse aus zuckenden Leibern hielt einen Moment inne, schien zu wittern, fügte sich zu einem Ganzen zusammen und glitt vom Stuhl. Dann begann das groteske Wesen zielstrebig, in ihre Richtung zu kriechen. Sie wollte nicht schreien, obwohl der Impuls dazu übermenschlich groß war. Schreien war Schwäche und sie musste stark sein, mehr als alles andere. Hart, wie sie es gelehrt worden war, seit sie denken konnte. Ein Mädchen, das ursprünglich ein Junge werden sollte. Ihr Vater hatte die Enttäuschung über die Geburt einer Tochter auf seine Art überwunden. Er hatte sie wie einen Sohn erzogen.
Für ihn wollte sie Stärke zeigen, für sich selbst und für ... Nicky ? Dann verschmolz der Traum mit der Realität und plötzlich war da die kalte Wahrheit, schlimmer als jede Fantasie und endgültiger in ihrer ganzen Hoffnungslosigkeit. Nicolas, ihr einziger Sohn. Ihre Lebensaufgabe, ihre Berufung - und gerade acht Jahre alt, als er ermordet wurde.
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