Nach dem Abendessen, das pünktlich wie jeden Tag um sieben Uhr stattfand, hatte sich Kriminalrat Lorenz artig bei seiner Frau Hilde bedankt. Danach hatte er sich in sein Arbeitszimmer an seinen eichenen Schreibtisch zurückgezogen. Hier, in seinem kleinen Refugium, das zu betreten seiner Frau unter allen Umständen verboten war, lockerte er erstmals an diesem Tag seine Kleidung. Er streifte die Fliege ab und knöpfte den obersten Hemdknopf auf. Dann goss er sich ein Glas Bordeaux ein, nahm einen vorsichtigen Schluck, ließ den Wein im Mund kreisen und nickte dann zufrieden. Danach öffnete er die lederne Briefmappe, entnahm ihr ein blütenweißes Stück Papier, schraubte den Federhalter auf und fing an zu schreiben. Ganz oben als Überschrift schrieb er in geschwungenen, wohlgesetzten Buchstaben: Aufgabenliste.
Darunter: Professor Kerner.
Er ließ einige Zentimeter Platz und schrieb dann: Peter Johnson.
Ein weiteres Stück tiefer schrieb er: Hartmann, BND.
Er besah sich das eben Verewigte, nahm einen weiteren Schluck Rotwein, seufzte und begann dann seine Arbeit. Es war an der Zeit, etwas ins Rollen zu bringen.
Eine knappe Vierteltunde später stellte er ernüchtert fest, dass der Zettel nicht ausreichen würde. Er zerknüllte ihn schließlich und warf ihn in den Papierkorb. Dann startete er von Neuem.
»Verdammte Scheiße, Alter! Wie geil ist das denn?« Wolfram Meyer freute sich wie ein kleines Kind. »Hier sind lauter Einträge über unseren Schotten ... Mann, der Alte hat den echt auf seiner schwarzen Liste. Schau mal hier, da hat Peter eins auf den Sack gekriegt, weil er einem Verdächtigen eine gezimmert hat.«
»Kümmer dich um das, was wir rausfinden sollen«, zischte Anton Steinmeier gepresst. »Wir haben nicht ewig Zeit und ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Mensch, mach halblang und hol uns lieber ein Bier. Man wird doch wohl Arbeit mit Vergnügen verbinden dürfen...«
»Mach jetzt einfach hin und besorg die Infos über diesen Kerner«, sagte Anton, dem der Sinn nicht nach Vergnügen stand. Aber er ging trotzdem los, um die Getränke zu besorgen.
»Immer so verbissen«, murmelte Wolfram und durchsuchte die Datenbank nach Einträgen, die den Namen Kerner enthielten. Der Bildschirm strukturierte sich neu und zeigte eine Liste mit Links, sortiert nach der Treffergenauigkeit. Gleich das erste Dokument schien ein Volltreffer zu sein und Wolfram Meyer klickte gespannt darauf. Eine Anmeldemaske erschien, die besagte, dass der Inhalt streng geheim und ein weiteres Passwort erforderlich sei. Das war ungewöhnlich, denn die Dokumente, die Wolfram bis dahin gesichtet hatte, waren alle frei zugänglich gewesen. Zumindest, wenn man unter dem Namen Lorenz in der Datenbank eingeloggt war. Wolfram pfiff durch die Zähne. Nicht gut, gar nicht gut. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm er dasselbe Passwort, das ihnen den Zugang zum Konto des Hauptkommissars ermöglicht hatte. Eine sich endlos hinziehende Sekunde lang passierte nichts. Dann baute sich der Bildschirm auf und ein Foto von Thomas Kerner war zu erkennen, gefolgt von Text und weiteren Links.
»Ach du meine Fresse«, entfuhr es Anton, der hinter Wolfram mit dem Bier aufgetaucht war.
»Ja, ist krass, was?!«, lachte Wolfram, der seinen Freund falsch verstand. »Die sind sowas von faul und nehmen dasselbe Passwort nochmal, die Deppen ...«
»Das meine ich nicht, verdammt!« Antons Stimme klang belegt und brüchig. »Wirf mal einen Blick auf das Logo...«
»Heilige Scheiße«, flüsterte Wolfram ehrfürchtig. »Das ist eine andere Liga.«
»Lad die Sachen runter und dann raus aus dem System! Das wird mir zu heiß!«
»Hast Recht. So viel Bier kann Peter gar nicht bezahlen«, sagte Wolfram tonlos und begann mit den Vorbereitungen.
Auf dem Logo war der Bundesadler zu erkennen. Darunter die Buchstaben »BND«. Sie hatten es mit dem Geheimdienst der Bundesrepublik Deutschland zu tun.
Wolfram gab in hektischer Betriebsamkeit die entsprechenden Befehle ein und endlich erschien ein Fenster mit einem Fortschrittsbalken, der anzeigte, wie weit der Download vorangegangen war. Quälend langsam bewegte sich dieser Balken, während die beiden atemlos zusahen und sich wünschten, ihr Job wäre endlich erledigt. Die Euphorie des Eindringens in den Polizeicomputer war längst einer gespannten Nervosität gewichen.
Jetzt schien der Balken kurz vor dem Ende zum Stillstand zu kommen. Nichts bewegte sich mehr.
»Verdammt, nun mach schon«, blaffte Wolfram den Bildschirm an. Im selben Moment kam wieder Bewegung in den Balken. Als die beiden eben aufatmeten, öffnete sich ein weiteres Fenster in der oberen linken Monitorecke, begleitet von einem sirenenartigen Geräusch. Die zwei erstarrten.
»Das ist der Tracker«, sagte Wolfram schließlich ungläubig. »Das ist unmöglich.«
»Oh verdammte Scheiße«, murmelte Anton, »oh verdammte Scheiße. Die haben uns ausfindig gemacht.«
Den Tracker hatten sie, ähnlich wie die Anzeige der wechselnden IP-Adressen, nur installiert, weil sie sich nach allen Seiten absichern wollten. Eine Routinemaßnahme, von der sie nicht im Traum erwartet hätten, dass sie zur Anwendung kommen könnte. Und jetzt war genau das passiert.
Der Balken hatte das Ende erreicht. Meyer stöpselte die winzige externe Festplatte mit den eben gewonnenen Daten aus und steckte sie in die Tasche. Dann rief er in fieberhafter Eile das »discwiper« genannte Tool auf. Das Programm konnte die Festplatte seines Rechners nicht nur löschen. Es überschrieb sie so mit willkürlichen Zahlen- und Buchstabenfolgen, dass der ursprüngliche Zustand auch mit Spezialmitteln nicht wieder hergestellt werden konnte. Gleichzeitig raffte er ein paar Sachen zusammen, vergewisserte sich, dass Geld und Papiere dabei waren, und raunzte schließlich den wie paralysiert dastehenden Anton an:
»Steini, wach auf! Wir müssen schleunigst verschwinden ...«
Im »Irish Harp« spielte seit kurzem die Band ihren Mix aus keltischer Folklore und Pop, ein Stil, der Peter unter anderen Umständen fürchterlich auf die Nerven gegangen wäre. Aber jetzt hatte er nur Ohren für das, was Reiner Gassmann in seiner sachlichen, zurückhaltenden Art zu erzählen hatte.
»Ich wiederhole mich nur ungern«, sagte dieser gerade. »Aber Ihnen allen muss absolut klar sein, dass das, was heute besprochen wird, inoffiziellen Charakter hat. Sie werden es nicht direkt verwenden können und Sie werden definitiv, weder direkt noch indirekt, mich als Quelle nennen. Wenn Sie trotzdem aus den Informationen einen Nutzen für sich entnehmen können, was ich übrigens sehr begrüßen würde, dann ist das umso schöner. Aber Sie dürfen sich niemals auf mich berufen.«
Er schaute jeden Einzelnen an, bis alle zustimmend genickt hatten. Peter konnte Angelas Hand spüren, die sich in seiner verkrampfte.
»Wie Herr Liebrich schon bemerkt hat, bin ich seit einiger Zeit nicht mehr im aktiven Dienst«, fuhr Gassmann fort. »Das heißt nicht, dass ich nicht noch das eine oder andere mitkriege. Aber viel entscheidender ist, dass ich damals dabei war, als die Akte »Kerner« angelegt wurde. Vor neun Jahren, um halbwegs genau zu sein.«
Dabei sah er Angela an, die den ihr zugeworfenen Ball aufnahm.
»Also zu einem Zeitpunkt, als ich seine Assistentin war ...«
»Genau, liebes Kind. Zu diesem Zeitpunkt müsste Kerner ziemlich oft gereist sein. In die Schweiz und nach Frankreich, um genau zu sein. Richtig?«
»Ich erinnere mich ... in die Schweiz bin ich einige Male mitgekommen. Einmal hatten wir sogar Nicky dabei. Er mochte es sehr dort«, sagte Angela nachdenklich.
»Wissen Sie noch den Anlass?«, hakte Gassmann nach.
Plötzlich war alles wieder ganz klar vor Angelas Augen. Das riesige Gelände, die unglaubliche Technik, die Sicherheitsvorkehrungen, der »Globe«, den sie mit Nicky besucht hatte.
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