Aber das war der Peter damals gewesen. Der Peter, den es nicht mehr gab. Oder doch? Und er hatte betroffen gewirkt, als er seinen Pflichtbesuch abgestattet hatte. Oder? Aber dann hatte er wieder reagiert wie das letzte Arschloch ...
Karls Gedanken drehten sich und drehten sich, bis sie wieder am Anfang angekommen waren. Und dann begann die Karussellfahrt von vorne...
Im selben Krankenhaus versuchte Karin Kabrinsky verzweifelt, wach zu bleiben, aber es gelang ihr ebenso wenig, wie es Karl gelang, einzuschlafen. Die Mittel, die man ihr verabreicht hatte, waren einfach zu stark und sie sank immer wieder in einen unruhigen Schlaf, den sie ganz und gar nicht begrüßte. Man hatte ihr das Handy weggenommen, was für sich genommen schon mal eine Riesensauerei war, aber das Schlimmste daran war, dass sie Angela nicht erreichen konnte. Und sie musste ihr doch unbedingt sagen, dass sie ihr keinen Vorwurf machte, dass sich nichts an ihrer Freundschaft geändert hatte. Sie kannte Angela so gut, dass ihr schmerzlich bewusst war, welche Vorwürfe sie sich machen würde, so unbegründet sie auch sein mochten. Sie hoffte, dass die Schwester wenigstens ihre Nachricht weitergeleitet hatte. Die junge Dame hatte zwar einen ganz patenten Eindruck gemacht, aber mit absoluter Gewissheit konnte man das natürlich nicht sagen. Karin war in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf weggedriftet, nachdem sie gebeten hatte, Angela zu informieren, dass es ihr gut ginge. Als sie wieder wach war, hatte eine andere Schwester den Dienst übernommen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie keinen Schimmer davon, was ihre Kollegin ausgerichtet hatte – oder auch nicht.
»Wenn Ihr Kommunikationsfluss immer so träge ist und keiner weiß, was der andere tut..«, hatte Karin sich nicht verkneifen können zu sagen.
Und mit hochgezogenen Augenbrauen: »Dann stellt sich einem die Frage, wie oft man z.B. ein und dieselbe Medizin zu schlucken bekommt«. Mit einem misstrauischen Blick auf die Tabletten, die ihr die Schwester gerade reichte, hatte sie hinzugefügt: »Ich habe keine Lust, eine Überdosis von irgendwas verpasst zu kommen. Sind Sie ganz sicher ...?«
»Bin ich,« hatte die Schwester sie unterbrochen und ihr einen vernichtenden Blick zugeworfen.
»Und im Übrigen ist unser ‚Kommunikationsfluss‘ flott genug, uns gegenseitig vor schwierigen Patienten zu warnen. Und jetzt schlucken Sie ihre Tabletten!«
Das hatte gesessen und Karin hatte sich ein beeindrucktes Lächeln nicht verkneifen können. Meistens kuschten die Leute, wenn sie ihre Mischung aus Zynismus, Arroganz und Frechheit anrührte, aber diese junge Schwester war völlig unbeeindruckt geblieben. Aus der kann noch was werden, hatte Karin amüsiert gedacht und dann einen Moment später resigniert festgestellt, dass ihr das jetzt auch nicht helfen würde.
Sie nahm sich vor, die Taktik zu ändern und die Schwester auf ihre Seite zu ziehen, wenn sie das nächste Mal ins Zimmer käme. Ja, das erschien ihr eine gute Idee. »If you can’t beat ‘em, join ‘em.«
Und über diesem Gedanken schlief sie wieder ein.
In seinem Wohnzimmer waren die Vorhänge zugezogen, sodass völlige Dunkelheit herrschte. Ein zufälliger Beobachter hätte nur anhand der regelmäßigen Atemzüge, die die Stille durchbrachen, einen Hinweis darauf bekommen, dass der Raum nicht leer war. Jemand, der auf der Couch eingeschlafen ist ...
Aber Thomas Kerner schlief nicht und er lag auch nicht auf der Couch.
Er hockte im Schneidersitz auf dem weichen Teppich, vor sich einen Cognac, zwei längst heruntergebrannte Kerzen und zwischen ihnen eine Box aus Leder in der Größe eines Schuhkartons. Kerner starrte ins Dunkle, voller Angst den eigenen Atemzügen lauschend. Auf eine perfide Art wusste er, dass etwas in seinem Kopf »Klick« gemacht, dass er eine Grenze überschritten hatte, deren Übergang nur in eine Richtung geöffnet war. Während ein Teil seines Verstandes eine Reise in Gefilde angetreten hatte, denen außer ihm selbst niemand folgen konnte, war der andere Teil analytisch und funktional wie immer. Und genau das erzeugte die tiefe Furcht in ihm. Er wusste, dass er am Durchdrehen war, aber gleichzeitig war er in der Lage, eine nüchterne Bilanz zu ziehen. Und die fiel äußerst unbefriedigend aus.
Alex war ein Reinfall gewesen. Nichts von dem, was er sich vorher ausgemalt hatte, war eingetreten. Kein Rausch des Triumphes, keine Befriedigung seiner Rachegelüste, nur ein schaler Geschmack im Mund und Blutspritzer an der Kleidung und auf der Haut. Und dann der gottverdammte Bulle, der natürlich genau in dem Moment auftauchen musste, als er diese andere Schlampe am Wickel hatte.
Es war gut gewesen, Angelas Wohnung zu beobachten. So hatte er verfolgen können, wie das erst gedämpfte Licht oben im Apartment plötzlich in voller Pracht erstrahlte. Wie dann die Beleuchtung im Hausflur anging und kurz danach diese Frau unten in der Haustür erschien.
Es bedurfte keiner detektivischen Fähigkeiten, um sie mit Angela in Verbindung zu bringen. Besser als nichts, hatte er gedacht und beim Gedanken daran, wie offensichtlich volltrunken die Dame gewesen war, musste er selbst jetzt noch lächeln. Dumm, dass sie überlebt hatte, weil er im entscheidenden Moment gestört wurde ... Das hätte das Miststück von Angela so richtig getroffen.
Zumindestens würde diese überdrehte Schnepfe ihn kaum identifizieren können, so abgefüllt, wie sie gewesen war. Hatte irgendwas vom Mond gefaselt, war das denn zu glauben?
Er hätte sie liebend gern dorthin geschossen, wenn der große Beschützer nicht aufgekreuzt wäre. Und der hatte ihn erkannt, da war sich Kerner sicher. Für einen ganz kurzen Augenblick, als der Mistkerl in seinem Taxi auf ihn zugeschossen kam, hatten sich ihre Blicke getroffen und jeder hatte den anderen erkannt. Da bestand kein Zweifel. Warum war dann niemand bei ihm aufgetaucht von den Bullen? Diese Frage beschäftigte ihn schon die ganze Zeit, seit er panisch zu seinem Auto gerannt und nach Hause gerast war. Seitdem wartete er darauf, dass die Polizei vor der Tür stehen würde.
Nicht wegen der Sache mit Alex, oh nein! Er war sich sicher, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Und nicht umsonst hatte er den kleinen Dealer während der ganzen Zeit seiner Haft mit keinem Wort erwähnt. Mit der Sache im Hotel Adler würde man ihn nicht in Verbindung bringen können. Gedankenverloren nestelte er an der Lederbox herum, öffnete sie schließlich. Der Gestank, der sich ausbreitete, war bestialisch, aber er rümpfte nicht einmal die Nase. Der unförmige Klumpen, der einmal Alex‘ Herz gewesen war, befand sich bereits im Zustand der Verwesung. Was einmal als Anfang einer Trophäensammlung gedacht war, war nur noch ein Brocken Abfall ohne jede Bedeutung. Kerner schauderte bei dem Gedanken, welches Risiko er eingegangen war, das tote Stück Fleisch mit in sein Haus genommen zu haben.
Was, wenn die Bullen gekommen wären und das Haus wegen der Sache vor Angelas Wohnung durchsucht und dann das hier gefunden hätten? Verdammt, er durfte sich keine solchen Fehler erlauben. Schlimm genug, dass der verfluchte Privatdetektiv offenbar das Weite gesucht hatte. Um den hatte er sich kümmern wollen, denn wenn der der Polizei steckte, wen er für ihn gesucht und gefunden hatte, würde er in gewaltige Erklärungsnotstände kommen. Aber bei dem war nur der Anrufbeantworter angesprungen. Die Nachricht darauf besagte, dass der Schnüffler aus beruflichen Gründen im Ausland weilte und bis auf weiteres nicht zu erreichen sei. Kerner hatte fast lachen müssen. Kalte Füße hatte der gekriegt, und vielleicht würde er niemals erfahren, dass er gute Gründe dafür gehabt hatte.
Kerner konnte nur hoffen, dass der Mann so schlau war, nicht wieder hier aufzutauchen. Und er konnte ebenfalls nur hoffen, dass er nicht zur Polizei gehen würde. Aber dann, so überlegte der Professor für Kernphysik, würde der Mann in einen Mordfall mit hineingezogen und das würde Ärger und Unannehmlichkeiten bedeuten. Nein, von dem Detektiv ging keine Gefahr aus, da hätte er drauf wetten können. Blieb das leidige Herz. Kurzentschlossen klappte er die Box wieder zu, wischte sie sorgfältig ab und verfrachtete sie, jetzt mit Handschuhen bewehrt, in eine Plastiktüte. Er beschloss, noch einen Spaziergang zu machen.
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