»Mach dir keinen Kopf, mein Alter. Ich schaukel das hier schon. Sieh du nur zu, dass du deine Probleme löst. Und grüß mir Liebrich!«, unterbrach ihn Karl.
»Mach ich. Und du hast was gut bei mir.«
»Und ob!«, sagte Karl und beendete das Gespräch.
An den Wänden hingen Kunstdrucke von Monet. Das schwere Bücherregal enthielt ein paar Bildbände über Gartenpflanzen, Fotografie. Reiseführer. Nördliche Ziele hauptsächlich. Norwegen, Schweden, Finnland. Natürlich Schottland.
Peter fand wenig Belletristik. Einige Klassiker. Dostojewski, Tolstoi. Camus. Schiller und Goethe, Shakespeare. Biographien von Brandt, Einstein, Kennedy. Bunt gemischt. Er nahm einen Band über die ägyptischen Pyramiden aus dem Regal, blätterte beiläufig darin. Bauwerke, die heute noch Rätsel aufgaben. Genau das Richtige für einen pensionierten Kommissar, dachte er.
»Da hat mich Martha hingeschleppt, gegen meinen Willen«, sagte Liebrich lächelnd. Er kam mit einer Flasche Glenlivet und zwei Gläsern in das Wohnzimmer zurück. »Zu warm, zuviel Sonne für mich. Aber ihr hat’s gefallen. Hat auf den Basaren gefeilscht, als hätte sie nie was anderes gemacht.«
»Ihre Frau und Feilschen?« Peter klang ungläubig und amüsiert.
»Und ob! Sie haben sie trotzdem beschissen. Aber sie hatte das Gefühl, wirkliche Schnäppchen rausgeholt zu haben. War stolz und glücklich. Und darauf kommt es an… Ich hab sie in dem Glauben gelassen.«
Liebrich wirkte plötzlich zehn Jahre jünger. Während die Erinnerung auf ihn wirkte, waren seine Züge weicher und entspannter geworden.
»Sie beide müssen sehr glücklich miteinander sein«, sagte Peter leise.
»Seit über fünfzig Jahren, mein Junge. Ohne sie hätte ich das nicht überstanden.« Liebrich sagte nicht explizit, was er damit meinte. Peter wusste es auch so. Polizeiarbeit war so etwas wie soziale Müllabfuhr. Man wurde mit Dingen konfrontiert, die andere Menschen nicht einmal ahnten. Die Perspektive machte den Unterschied aus.
Wenn man in den Nachrichten von einem Kindesmissbrauch erfuhr und für ein paar Sekunden Abscheu verspürte, dann folgte unmittelbar danach schon die nächste Schlagzeile. Man war so schnell wieder abgelenkt, hatte andere Neuigkeiten zu verarbeiten.
Anders, wenn man mitten im Geschehen war. Wenn man ein Kleinkind vor sich hatte, dessen Genitalien rot und aufgerissen und auf das Vielfache angeschwollen waren. Seinen Peinigern im Verhör gegenüber saß und als einzige menschliche Regung die Angst vor den Konsequenzen verspürte, nicht etwa Schuldgefühle oder Bedauern. Den blanken Horror in den Augen des Kindes mit nach Hause nahm und nicht wieder loswurde.
Peter dachte an die Toten, die Verstümmelten. Gesichter im Todeskrampf verzerrt. Menschen, denen das grundlegendste Recht, das auf Leben, verwehrt worden war. Denen Männer wie er und Liebrich nicht mehr Gerechtigkeit verschaffen konnten, als die Täter zu finden und ihre Bestrafung dann in die Hände der Gerichte zu legen.
Er dachte an die Verzweiflung derjenigen, die ihr Liebstes verloren hatten und deren einziger Trost darin bestehen konnte, die Verursacher des Leids dafür bestraft zu sehen. Und was war das für eine schale Genugtuung, die niemanden zurück ins Leben holen konnte, die nicht zurückbrachte, was für immer verloren war.
Und selbst diese Tröstung wurde den Menschen oft genug verwehrt. Polizeiarbeit konnte immer nur die Grundlage eines Prozesses sein, der sich zum Ziel setzte, wenn schon nicht Wiedergutmachung, so doch wenigstens eine Form der Bestrafung zu betreiben. Peter hatte es zu oft erlebt. Marginale Lücken in der Beweisführung, Verfahrensfehler, Beweise, die vor Gericht nicht zulässig waren, obwohl sie eine eindeutige Schuldzuweisung ermöglicht hätten. Zu viele Verbrechen, die ungesühnt blieben, weil die Formalitäten schwerer wogen als das eigentliche Unrecht. Zu viele Angehörige, deren Leben nie wieder dasselbe sein würde. Einfach, weil findige Anwälte das Fundament des Rechtssystems solange umgruben, bis es zu wacklig geworden war, um der Gerechtigkeit einen Halt zu bieten.
Peter dachte an die einsamen Abende in Gesellschaft der Geister und Dämonen, die ihn heimsuchten und bis in seine tiefsten Träume verfolgten. Ungebetene Gäste und doch so vertraut, dass er sie zu vermissen schien, wenn sie ihm tatsächlich einmal seine Ruhe ließen. Wenn der Whisky wenigstens zeitweise wirkte und ihn für eine Weile vergessen ließ. Aber die Dämonen blieben nie lange weg - und mit jedem Fall wurden es mehr. Ruhelose Seelen, vor ihrer Zeit aus dem Leben gerissen, vielleicht nur auf der Suche nach einem Ort, der ihnen endlich Frieden geben würde. Sie hatten sich bei ihm eingenistet, weil er sich eingemischt hatte. Eingemischt und letztendlich versagt. Denn was immer er tat, egal ob es zu einer Verurteilung kam oder nicht: Er konnte nie genug tun. Er konnte nicht die Zeit zurückdrehen, konnte Tote nicht zum Leben erwecken, war immer zu spät in dem, was er tat. Vielleicht suchten sie ihn heim, weil genau das sein Fluch war: Er trat immer erst dann in Erscheinung, wenn das Verbrechen geschehen, das Leben ausgelöscht war. Er war mehr Pathologe als Arzt. Er konnte nicht eine einzige Tat verhindern, sondern nur versuchen, sie aufzuklären. Vielleicht war es das, was ihm die Gesichter sagen wollten. Und vielleicht wurde er auch einfach nur langsam verrückt.
»Peter?« Liebrich sah ihn nur an, reichte ihm das gut eingeschenkte Glas mit dem edlen Tropfen aus dem Speyside Tal. Es bedurfte keiner großen Worte, um sich zu verstehen. Sie tranken beide schweigend.
Nach einer endlosen Minute nahm der alte Mann den Faden wieder auf und ermutigte Peter, die Geschichte von Beginn an zu erzählen.
»Wo genau soll ich einsetzen? Beim Anfang der Ermittlungen?«
»Erzähl mir von Angela. Wie ist sie zu Kerner gekommen?«
Peter steckte sich erneut eine Zigarette an, sammelte sich. »Angela hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine Weile mit Nicky an der Küste gewohnt, sich um ihren Vater gekümmert. Nickys Vater hatte sich kurz vorher abgesetzt, aber da war die Beziehung längst gestorben. Sie müssten ihn noch kennen. Charles Kaufmann …«
»Drogenhandel, Waffenschmuggel.« Liebrichs Gedächtnis war immer wieder ein Phänomen. »Wir haben ihn zwei-drei Mal einkassiert. Ließ sich aber nie was beweisen… Der war der Vater des Jungen?«
»Er war wohl auch durchaus charmant. Angela hat von seinen Geschäften nichts geahnt«, sagte Peter und merkte, dass er sofort in die Verteidigung ging. Er hatte sich selbst schon gefragt, wie wahrscheinlich es war, dass Angie völlig ahnungslos mit einem Schwerkriminellen zusammengelebt hatte. Aber er hatte den Gedanken immer schnell beiseite gewischt. Er nahm einen tiefen Zug von der Lucky Strike.
»Nachdem ihr Vater gestorben war, kam Angela mit dem Jungen nach Berlin zurück. Das Geld, das sie geerbt hatte, hätte locker zum Leben gereicht. Aber Angela wollte unbedingt wieder arbeiten.«
»Sie hatte Physik studiert?« warf Liebrich ein. »Physik, Englisch und ein paar Semester Mathematik«, gab Peter zurück. »Nichts davon beendet. Der Job als Assistentin von Kerner kam wie aus heiterem Himmel. Es war eine Riesenchance – und sie hat sie genutzt. »
»Wie kam es dazu? Ihre Referenzen waren nicht gerade überwältigend, wenn sie nichts beendet hatte …«.
»Sie haben sich auf der Party einer Freundin kennen gelernt. Kerner war ganz Gentleman. Und Angela war das, was er gesucht hat: ein Vehikel für sein Streben nach Ruhm und Glamour. Er erkannte sofort ihr Potenzial. Gut aussehend, intelligent, redegewandt. Mit Grundkenntnissen seiner Arbeit versehen, ideal, um ihn nach außen zu vertreten. Es war perfekt für beide.« Peter nahm einen Schluck Whisky, ließ ihn einen Moment im Mund wirken, bevor er ihn die Kehle hinunter rinnen ließ. Einen Mundvoll Bier hinterher zum Nachspülen. »Jedenfalls am Anfang.«
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