»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Angela milde. »Du übertreibst wie immer, aber im Kern stimmt es. Noch ein Glas Wein?«
»Du willst mich mundtot machen. Oder betrunken. Aber nun gut. Dann betrinke ich mich eben still und leise und sage einfach gar nichts mehr.«
»Das glaubst du selbst nicht«, antwortete Angela trocken.
Einen Moment sahen sie sich an, dann lachten beide schallend, während sie sich zuprosteten. Es tat gut, albern zu sein, war wie eine Befreiung von der Anspannung der letzten Zeit. Jedenfalls für Angela.
»Willst du hier übernachten?«, fragte sie schließlich, nachdem sie sich beruhigt hatten. »Ich könnte dir die Couch herrichten.«
»Nein danke, Liebes. Du weißt doch, wenn ich den ersten Tag wieder hier in Berlin bin, dann möchte ich auch zu Hause schlafen. Im eigenen Bett…«
»Ich weiß. Und sogar allein.«
Wieder das herzhafte Lachen. Eine weitere Füllung der Gläser, eine neue CD, diesmal Evanescence.
»Ich bin froh, dass du kommen konntest. Ich weiß nicht, wie ich den Abend sonst überstanden hätte.«
Angela sagte es ruhig, aber bestimmt und sah ihre Freundin dabei an. Karin wollte etwas erwidern, doch eine Handbewegung brachte sie zum Schweigen. »Ich meine es ernst, Karin. Mir wächst das alles über den Kopf. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und ich finde weder Anfang noch Ende.«
»Du bist durch den Wind, Liebes. Jeder wäre das in einer solchen Situation. Ich meine immer noch, wir sollten uns den Kerl vornehmen. Aber ...«
»Nein«, unterbrach sie Angela entschlossen. »Du hast mir wirklich geholfen – und dafür bin ich dir dankbar. Aber du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Dieser Mann ist unberechenbar.«
»Das bin ich auch und...«
»Schon. Aber du tötest nicht, wenn dir die Dinge entgleiten.«
Karin hatte darauf ausnahmsweise keine Antwort.
Angela sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins. Zu diesem Zeitpunkt war Peter in seinem Gespräch mit Liebrich so beschäftigt, dass er auf seinem lautlos gestellten Handy die Anrufe übersah, die aus der Polizeidirektion kamen. In der Intensivstation des Martin-Luther Krankenhauses kümmerten Ärzte sich um den verletzten Karl Elster.
Im Hotel Adler in Mitte hatte die Spurensicherung die Arbeit aufgenommen. Eine Prostituierte hatte den ermordeten Portier Werner Hagemann gefunden. Die Männer wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Durchsuchung der weiteren Räume eine unschöne Überraschung bereithielt. Und ganz in der Nähe, keinen Kilometer von Angelas Wohnung entfernt, war ein Mann mit einer Mission unterwegs, dessen Rachegelüste noch längst nicht gestillt waren. Und er kam näher.
Berlin
Oberkommissar Frank Berndes hastete die wenigen Stufen zum Hotel Adler hoch und fegte wie ein mittlerer Tornado in die kleine Vorhalle. Es war ein sehr langer Arbeitstag gewesen. Erst ein Einsatz im Morgengrauen, der sich bis Mittag hingezogen hatte. Das war etwas der Zeitpunkt, da die extremen Zahnschmerzen begonnen hatten, die den Nachmittag über anhielten. Den Großteil des Abends hatte er mit Eva, seiner Frau, gestritten und wusste hinterher nicht, was von beiden schlimmer war. Kurz nach Mitternacht hatte er sich völlig geschafft ins Bett gelegt.
Zunächst hatte er, wegen der Streiterei Gedanken wälzend, nicht einschlafen können. Gegen eins war er schließlich in ein Erschöpfungskoma gefallen. Um zwanzig nach eins war der Anruf gekommen.
Berndes war ausgesprochen schlechter Laune, als er die müden Augen durch den Rezeptionsbereich wandern ließ, auf der Suche nach seinem Assistenten. Ein mittelgroßer Mann im Overall der Spurensicherung kam aus einer Tür zu seiner Rechten, in einer Hand den Koffer mit seinem Werkzeug. Er sah weiß im Gesicht aus, als er den Kommissar begrüßte.
»N’Abend, Herr Berndes!«
»Wo ist Jürgens?«, brummte der zurück. Der Mann wies mit dem Kopf zu der Tür, aus der er gerade gekommen war und zog dann beleidigt weiter.
Der Raum hinter der Tür war winzig. Gerade Platz genug für einen Schreibtisch, zwei Stühle, eine Ablage an der Wand, auf der sich ein Wasserkocher und ein Tablett mit Bechern befanden. Ein tragbarer Fernseher in einem Eckregal, ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe auf dem schäbigen Schreibtisch. Und Jochen Jürgens, sein Assistent, die Beine vom Tisch baumeln lassend und wie immer unverschämt munter und gut gelaunt.
»Hallo Chef! Aus dem Bett gefallen?«
Berndes ignorierte das Grinsen im Gesicht seines Assistenten. Er hatte es längst aufgegeben, sich über den Jüngeren zu ärgern. Jürgens war rotzfrech, leichtfertig im Umgang mit Vorgesetzten und Vorschriften, ständig in irgendwelche Frauengeschichten verwickelt und schien niemals zu schlafen. Er rauchte wie ein Schlot und Berndes vermutete, er trank zuviel. Aber er war zuverlässig, intelligent und aufmerksam. Und das allein zählte.
»Wo ist der Tote?«, fragte Berndes nur. Jürgens wies mit einem Kopfnicken auf eine weitere Tür, die Berndes bisher übersehen hatte. Sie war in dem gleichen schmutzigen Gelb gestrichen wie die Tapete auch. Dahinter befand sich ein Raum wie ein Schlauch, in dem außer einem Feldbett keine weiteren Gegenstände standen. Auf dem Bett lag ein Mann auf dem Rücken und starrte mit seinem einen Auge ins Leere.
»Werner Hagemann. Frührentner. Früher Binnenschiffer, Boxer, Gelegenheitsarbeiter. Diverse Vorstrafen. Kleinigkeiten hauptsächlich. Hehlerei, Körperverletzung. Hat vor drei Jahren den Job hier übernommen, nachdem er vorzeitig in Rente gegangen war.« Jürgens listete die Daten auf, ohne auf seinen Notizblock zu sehen.
»Was ist mit dem Auge?«
»Unfall auf einem Lastkahn. Hat einen Bootshaken auf die Klüse bekommen …«.
Berndes nickte wie zur Bestätigung. »Todesart?«
»Erwürgt. Mit bloßen Händen.«
Berndes sah seinen Mitarbeiter irritiert an. »Der Mann ist ein Riese, den erwürgt man nicht einfach so.«
»Wir denken, er war da schon bewusstlos. Hat vorher einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Stumpfer Gegenstand, wahrscheinlich der eigene Aschenbecher. Wir haben Haare und Blut daran sichergestellt.«
Jürgens merkte, dass Berndes ihn erwartungsvoll ansah. »Nein, keine Fingerabdrücke.«
Frank Berndes schüttelte resigniert den Kopf. Natürlich nicht. Er nahm die Zigarette, die ihm Jürgens anbot, ließ sich Feuer geben, nahm einen kräftigen Zug, hustete. »Merkwürdig«, sagte er schließlich. »Warum gibt er ihm nicht mit dem Aschenbecher den Rest? Warum nimmt er sich die Zeit, das arme Schwein zu erwürgen?«
Jürgens grinste humorlos. »Vielleicht, weil er Spaß dabei empfindet.«
Genau der Gedanke war dem Kommissar auch gekommen.
»Und der andere?«, fragte er dann.
»Oben im dritten Stock. Und da wird es richtig gemütlich. Großes Kino, dagegen ist das hier die ‚Augsburger Puppenkiste‘.«
»Na dann wollen wir mal«, sagte Berndes und folgte seinem jüngeren Kollegen. Sein Zahn rief sich schmerzhaft in Erinnerung und ließ nichts Gutes erwarten.
Auf der Treppe kam ihnen ein Geist im Smoking entgegen. Professor Jonas, etwa sechzig Kilogramm Lebendgewicht bei knapp zwei Metern Größe, war der Pathologe vom Dienst. Er hatte nach einem gelungenen Opernbesuch und anschließendem Late-Night Umtrunk gerade im Taxi nach Hause gesessen, als ihn die Pflicht per Handy rief. Seine Stimmung stand der von Berndes in nichts nach. Das und die Hakennase, in Verbindung mit den kleinen dunklen Augen, verliehen ihm mehr denn je etwas Raubvogelartiges.
»Auch schon da?«, blaffte er Berndes an. »Ich hoffe, man hat Sie nicht zu rüde geweckt.« Sein sarkastischer Tonfall strafte seine Worte Lügen.
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, entgegnete Berndes kalt. »Schon was, das Sie uns sagen können?«
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