Als der Film zu Ende war, sah Katharina mit Schrecken auf die Uhr. Es war schon fast Mitternacht: Mussten Kinder um diese Uhrzeit nicht schon längst im Bett sein? Sie hatte noch nicht einmal das Gästezimmer fertig gemacht. Und jetzt? Musste sie Laura beim Zähneputzen helfen?
»Kann ich allein. Bin doch schon fast fünf.« Das war eine klare Ansage.
Laura putzte sich mit Inbrunst die Zähne. Lauras Vater war Zahnarzt gewesen, bevor er reich geerbt hatte. Melanie Wahrig hatte es Katharina einmal erzählt.
Währenddessen stand Katharina rätselnd vor dem Wäscheschrank: Seide, Satin – alles in Schwarz. Aber irgendwo musste doch noch … Genau, eine infantile Liebschaft hatte ihr ein Set Star-Wars-Bettwäsche geschenkt. Sie fand die über und über mit kleinen Yodas bedruckten Bettbezüge im hintersten Winkel des Schranks.
Laura kicherte über den grünen Zwerg und schloss glücklich Zon aus dem Land Yan in den Arm – den grünen Teddy, den Katharina aus ihrer Wohnung mitgebracht hatte.
»Liest du mir noch was vor?«
Auch das noch. Was sollte sie denn …? Klar! Sie zog einen alten gelbroten Band aus dem Bücherregal. Er hatte ihrer älteren Schwester Susanne gehört; sie hatte Katharina immer daraus vorgelesen.
»Also: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv.«
***
A Day in the Life of a Fool
Freitag, 23. November 2007
Katharina hob den Kopf. Etwas hatte sie geweckt.
Auf ihrer Bettkante saß …
… Susanne, ihre Schwester. An ihrer neonblauen Haarsträhne kauend blätterte sie in einem gelbroten Buch. »Du hast es aufgehoben.«
Katharina wollte sich aufsetzen, doch irgendetwas hielt sie am Ärmel fest. Sie versuchte sich loszumachen, aber es ging nicht. Das Zerren an ihrem Ärmel wurde immer stärker. Schließlich riss sie sich mit aller Macht los und setzte sich auf.
***
Wer zum Teufel …? Laura!
Das kleine Mädchen stand neben Katharinas Bett und zupfte an ihrem Ärmel. Wie kam …? Ach ja, richtig. Laura hatte bei ihr übernachtet.
»Muss ich heute nicht in den Kindergarten?«
Kindergarten. Stimmt. Kinder müssen in den Kindergarten. Katharina blickte auf die Uhr. Zehn nach sieben. »Wann musst du denn da sein?«
»Um acht.«
Oh je. Also aufstehen. Katharina schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Bettkante.
»Wer ist denn Susanne?« Laura blickte sie mit großen, neugierigen Augen an. »Du hast gerade den Namen gesagt. Beim Schlafen.«
»Meine große Schwester.« Katharina stieß seufzend die Luft aus.
»Mama hat mir auch eine Schwester versprochen. Oder einen Bruder. Aber Jungs sind doof.«
Katharina nahm das kleine Mädchen an die Hand und ging mit ihr ins Bad, wo Laura wieder begann, sich gewissenhaft die Zähne zu putzen.
Eigentlich war Freitag. Ladyshave-Tag. Das würde Katharina wohl verschieben müssen. So duschte sie nur kurz und stieg gerade rechtzeitig zum Ende von Lauras Zahnputzritual aus der Kabine.
»Laura, willst du auch duschen?«
»Oh ja.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Nee, ich bin doch schon –«
»Ich weiß, du bist doch schon fast fünf.« Katharina drehte das Wasser auf handwarm und stellte das milde Shampoo auf die unterste Stufe der Ablage.
***
In ihrer Kleiderwahl war Laura penibler als Katharina. Endlich fanden aber doch einige der Kleidungsstücke, die Katharina mitgebracht hatte, vor ihren strengen Augen Gnade.
Frühstück musste ausfallen. Während Laura ihren Kakao trank, zapfte sich Katharina rasch einen Espresso aus ihrer italienischen Hochleistungskaffeemaschine. Ein Geburtstagsgeschenk von Antonio Kurtz, ihrem Patenonkel: »Wenn ihr Bullen schon ständig Kaffee trinkt, dann wenigstens vernünftigen.«
Oh je, sie hatte ja Montag schon wieder Geburtstag. Das würde eine feine Feier werden beim Psychologen.
Kinder nahmen doch immer etwas zu essen mit in den Kindergarten, fiel Katharina ein. Sie schaute in den Kühlschrank. Na gut, eine Tafel Schokolade. Daran würde das Kind schon nicht eingehen. In ihrer Obstschale fand sie noch zwei Äpfel, die halbwegs essbar aussahen. Vorsichtig schnupperte sie daran. Ja, das waren richtige Äpfel und keine Dekoration. Wann hatte sie die denn gekauft?
***
»Du hast aber ein lustiges Auto.« Staunend stand Laura vor Morris, während Katharina überlegte, wo sie das Kind unterbringen sollte. Sie hatte es immer wieder gepredigt, als sie in der Ausbildung Streife fuhr: Kleine Kinder gehören in Kindersitze. Aber sie hatte natürlich keinen. Es musste also so gehen.
Laura krabbelte auf den Rücksitz. Katharina schnallte sie sorgfältig an. Laura giggelte. Das Kind war aber wirklich kitzelig.
Vorsichtig fuhr Katharina aus der Parklücke. »Mein Gott, ich transportiere doch kein Nitroglyzerin«, ermahnte sie sich. Sie brachte die Tochter einer Nachbarin zum Kindergarten. Ausnahmsweise.
»Du hast ja gar kein Blaulicht.«
»Das ist ja auch kein Polizeiauto. Das ist meins. Aber ein Blaulicht habe ich trotzdem.« Sie zeigte Laura das mobile Blaulicht im Handschuhfach.
»Machst du das jetzt an?«
Das fehlte noch. Signalfahrt zum Kindergarten. Hölsung wäre begeistert.
»Aber ich bin doch gar nicht im Dienst. Dann darf ich das nicht.«
»Schade. Da würden die anderen gucken.«
***
Das taten sie auch so. Katharina hielt sich nicht lange mit der Suche nach einem Parkplatz auf, sondern fuhr mit Schwung auf den Hof des Kindergartens. Rasch bildete sich eine Traube von Kindern um das Auto. Auch ein paar Eltern gesellten sich dazu.
»Das ist ja ein echter Mini.« Katharina, die gerade versuchte, Laura aus ihrem Gurt zu befreien, drehte sich zum Sprecher um. Der junge Mann hielt ein vielleicht dreijähriges Mädchen auf dem Arm: »Der sieht aber richtig gut aus. Ihr Mann ist sicher Automechaniker, oder?«
»Ich bin nicht verheiratet«, knurrte Katharina. »Und den Wagen habe ich selbst restauriert.«
Der Mann blickte auf seine Tochter. »Siehst du, so was kannst du später auch, wenn du mit Autos spielst.« Dann wandte er sich wieder an Katharina. »Wir legen großen Wert darauf, dass Yasmin nicht mit einem traditionellen Rollenverständnis aufwächst. Leider spielt sie lieber mit Puppen.«
Katharina hätte am liebsten erwidert, sie habe als Kind immer mit Autos gespielt und vorgestern zwei Menschen erschossen. Aber vermutlich war der Mann nicht sehr humorbegabt. Das waren die wenigsten Eltern.
***
Katharina wollte das blonde Kind, das ihr immerhin bis zur Nasenspitze reichte, schon fragen, wo sie denn die Kindergärtnerin fände. Gott sei Dank sah sie ein zweites Mal hin, als Laura das »Kind« begrüßte: »Hallo, Tante Elfie.«
»Guten Morgen, Laura.« Das Wesen sah aus wie eine Elfie und sprach auch so. Es musterte Katharina wie eine Spitzmaus ein Stück Rattengift: »Ich bin Elfie LaSalle. Ich leite diesen Kindergarten. Und Sie sind?«
»Das ist Katharina. Sie ist Polizist«, mischte sich Laura stolz ein. Elfies Gesicht wurde noch spitzer. Gleich würde sie »Haut die Bullen platt wie Stullen« skandieren.
»Wo ist Lauras Mutter?« Mit ihrem Tonfall hätte Elfie LaSalle durchaus den Kurs »Verhörmethoden I« bestehen können.
Katharina fragte vorsichtig: »Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen?«
Die Kindergärtnerin nickte: »Komm, Laura. Geh schon mal spielen.«
Laura sah zu Katharina hoch. »Tschüss, Katharina.«
Katharina ging in die Hocke, nahm Laura fest in den Arm und strich ihr über die blonden Locken. »Tschüss, Laura. Du bist heute ganz artig, ja? Ich hole dich nachher auch ab.«
»Echt? Toll!« Laura hüpfte mit ihrem Rucksack auf dem Rücken davon. Katharina stand auf.
»Und?« Elfie LaSalle sah sie immer noch streng an, soweit das einem kleinen, blonden, zierlichen Wesen möglich war, das sich im Herzen auf einer Altersstufe mit den von ihr behüteten Kindern befand.
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