»Tut mir leid. Aber ich bin keine Studentin. Mein Name ist Katharina Klein vom KK 11.«
»Die Killer Queen?«
Katharina hasste diesen Spitznamen. Doch sie entschloss sich, die Provokation zu überhören. »Ich bin hier, um meinen Kollegen zu identifizieren.«
Dr. Amendt musterte sie nachdenklich: »Schade. – Kommen Sie!«
***
»Wo haben wir denn …? – Ach da.«
Doktor Amendt öffnet eines des Stahlfächer in der Leichenhalle. Der Körper auf der metallenen Bahre war in einen mit einem Reißverschluss verschlossenen, dunkelblauen Sack gehüllt. Katharina fröstelte. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Kittels.
»Bereit?«
Katharina nickte stumm. Dr. Amendt zog den Reißverschluss auf und schlug das Plastik zurück: Thomas. Nackt. Katharina sah die große Ypsilon-Narbe der Autopsie, die grob vernähten Einschusslöcher im Brustkorb. Der Haut war bleich, die Bauchdecke eingesunken. Vermutlich fehlten die inneren Organe.
Früher hatten Katharina Autopsien nichts ausgemacht. Bevor sie nach Frankfurt versetzt worden war. Doch jetzt? Sie kniff die Augen zusammen. Nur nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt.
Ein Arm legte sich um ihre Schultern: »Möchten Sie einen Augenblick alleine sein?«
Alles, bloß das nicht. Nicht alleine sein. Nicht nachdenken müssen. Katharina schüttelte den Kopf. Endlich traute sie sich, Thomas ins Gesicht zu sehen.
Jeden Augenblick würde er zu ihr aufschauen, dachte sie. Dann wäre dieser Albtraum vorüber. Vielleicht war sie einfach nur in der Oper eingeschlafen? Gleich würde sie aufwachen. Wenn sie sich nur ganz fest konzentrierte.
***
»Sie müssen wirklich mal Ihren Kreislauf untersuchen lassen. – Fallen Sie immer so schnell in Ohnmacht?«
Katharina fand sich auf einem Klappstuhl wieder. Dr. Amendt hockte vor ihr. Hielt ihre Hände fest in den seinen. Katharina machte sich los. Das war ja peinlich. Sie war schließlich Kriminalbeamtin.
»Geht schon.« Katharina ignorierte das Pulsieren in ihrem Kopf und stand auf. »Ja, das ist mein Kollege.«
»Wenn es Sie beruhigt: Seine beiden Mörder sind auch hier. Rechts und links von ihm. Saubere Arbeit Ihres Killerkommandos.«
Katharina fuhr auf: »Das war Notwehr!«
»Notwehr? So präzise Schüsse? Wohl kaum. Das war Profiarbeit. Kaum zu glauben, dass das Polizisten waren. Aber vermutlich gleichen sich Jäger und Gejagte irgendwann an. – Hier, ich brauche noch eine Unterschrift.« Dr. Amendt hielt ihr einen Aktenordner hin. Katharina trug ihren Namen und ihre Dienstnummer in die dafür vorgesehenen Felder ein und unterschrieb die Identifikation. Das war also der Abschied von ihrem Kollegen. Die letzte Amtshandlung. Nicht weinen. Nicht wieder in Ohnmacht fallen.
Dr. Amendt nahm ihr die Akte ruppig aus der Hand.
»Sie mögen die Polizei nicht besonders, oder?«, fragte Katharina mürrisch.
»Nein!« Der Arzt schloss die Schublade, in der Thomas lag, mit einem lauten Knall.
***
Endlich hatte Katharina den Weg ins Freie gefunden. Sie trat mit aller Macht gegen das schmiedeeiserne Tor. Es sprang dröhnend auf. Der Tritt löste ihre Probleme zwar nicht, tat aber gut.
Das war also Dr. Andreas Amendt. Wie kam dieser Psychopath nur zu einer leitenden Position in der Rechtsmedizin?
Katharina stieß zischend die Luft aus, um sich zu beruhigen. Sie erinnerte sich, dass sie Laura versprochen hatte, nach ihrer Mutter zu sehen. Vielleicht würde alles gut werden. Vielleicht ging es Melanie Wahrig schon besser. Vielleicht.
Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke und ging mit schnellen Schritten zurück zum Gelände der Uniklinik.
***
Eine Schwester führte Katharina durch die Intensivstation. Es war still auf der Station. Sterile Überschuhe dämpften die Schritte.
In einen Raum am Ende des Gangs lag Melanie Wahrig. Sie war so blass, dass ihre Haut wirkte wie durchscheinendes Pergament. Ihr Kopf war bandagiert: Die langen Locken hatte man natürlich abrasiert. Kaum merklich hob und senkte sich der Brustkorb im Takt der Beatmungsmaschine. Die Augen der jungen Frau waren offen, doch sie starrten ins Leere.
Katharina warf einen Blick auf die Monitore neben dem Bett: Das Herz schien regelmäßig zu schlagen, doch das EEG zeigte nur ganz kleine Ausschläge.
»Sind Sie von der Kriminalpolizei?«
Katharina fuhr herum.
Alles an dem großen Mann, der vor ihr stand, schien eine Nummer zu groß zu sein und hing übermüdet an ihm herab: der Kittel, die endlosen Arme, sogar die Gesichtszüge. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Neurath, ich bin der Neurologe hier auf der Station. Sind Sie Hauptkommissarin Klein?«
Katharina bejahte.
»Ich habe schon den ganzen Morgen versucht, Sie anzurufen. Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Mit einer knappen Geste bat er sie hinaus auf den Gang und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
Katharina fragte: »Wie geht es ihr?«
»Offen gesagt, nicht gut. Wir können nur hoffen, dass die Schwellung im Gehirn zurückgeht. Aber im Moment …«
»Wie sind die Chancen? Kann sie wieder gesund werden?«
»Sie … sie müsste schon längst tot sein. Aber ihr Körper ist stark. Das ist vielleicht noch eine Chance, aber …«
»Aber?«
»Ehrlich gesagt: Ich glaub nicht daran.«
Katharina schwieg.
Endlich fuhr Dr. Neurath fort: »Ich wollte aber noch etwas anderes mit Ihnen besprechen.«
Er zog mehrere große, dunkle Folien aus einer Akte und hielt sie gegen das Licht. Unzufrieden mit dem Ergebnis lotste er Katharina in ein kleines Büro, an dessen Wand ein Röntgenfilmbetrachter hing.
»Sehen Sie das?« Er deutete mit einem Stift auf eine Stelle des Röntgenbildes. »Das hier ist der Bruch im Schädel von Frau Wahrig. Schon bei der OP ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen.«
»Ja?«
»Ich bin kein Spezialist für so was, aber es sieht so aus, als wäre sie zweimal exakt auf die gleiche Stelle gefallen. Mit ziemlicher Wucht. Das ist sehr ungewöhnlich.«
»Und das heißt?«
»Für mich sieht es so aus, als wäre sie auf etwas geschlagen worden. Mit Absicht. Das würde auch die Tiefe der Verletzung erklären. Aber das kann Ihnen ein Rechtsmediziner besser sagen. Doktor Amendt müsste Dienst haben.«
»Ich weiß«, sagte Katharina missmutig.
Dr. Neurath sah sie erstaunt an, dann hoben sich seine Mundwinkel um den Bruchteil eines Millimeters. »Er ist nicht so schlimm, wie er scheint. – Grüßen Sie ihn von mir. Wir sind Studienkollegen.«
***
Sie standen inzwischen wieder vor dem Zimmer, in dem Melanie Wahrig lag. Sie schien noch blasser geworden zu sein, aber vielleicht lag das an dem fahlblauen Licht und der Glasscheibe. Dr. Neurath legte Katharina die Hand auf die Schulter: »Ich rufe Sie an, sobald es etwas Neues gibt.«
Er begleitete sie zur Tür der Intensivstation. Zum Abschied schüttelte er ihr die Hand. Ganz anders als erwartet war der Händedruck warm und fest.
***
Beim Betreten der Station hatte Katharina einen sterilen Einweg-Overall überziehen müssen. Sie hatte ihn abgestreift und warf ihn gerade in den dafür vorgesehenen Behälter, als sich die Tür zur Intensivstation noch einmal öffnete. Dr. Neurath streckte ihr einen Umschlag entgegen: »Hier, ich habe die Bilder für Sie zusammengepackt. Die sollten Sie besser mitnehmen.«
***
Katharina klopfte an die Tür zu Dr. Amendts Dienstzimmer. Eine Frauenstimme rief freundlich: »Herein!«
Hinter einem Schreibtisch saß die junge Frau, die in der Vorlesung die Rolle der Leiche übernommen hatte, und verbreitete Sonnenschein.
»Ich möchte gern zu Doktor Amendt.«
»Oh, Andreas ist gerade außer Haus. Kann ich etwas ausrichten?«
Andreas? Hatte Amendt seine Geliebte als Sekretärin eingeschmuggelt? Katharina überkam das Bedürfnis, das blonde Wesen hinter dem Schreibtisch zu ohrfeigen. Mürrisch sagte sie: »Ich bin von der Kriminalpolizei und muss einen Fall mit ihm besprechen.«
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