Katharina zögerte; dann antwortete sie kleinlaut: »Ja.«
»Das ist absolut unmöglich.«
»Warum?«, fragte sie giftiger als sie beabsichtigt hatte.
»Weil Sie vorgestern zwei Menschen erschossen haben!«, schnauzte Polanski zurück. »Und bis zur endgültigen Aufklärung der Vorgänge sind und bleiben Sie beurlaubt.«
Andreas Amendt hob beschwichtigend die Hände. »Aber –«
»Und mit Ihnen rede ich gar nicht erst«, fiel ihm Polanski ins Wort. »Ihr Chef hat schon längst ein Fax geschickt, dass Sie suspendiert sind. Wegen haltloser Verdächtigungen.«
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Andreas Amendt den Kriminaldirektor schlagen. Doch dann machte er auf dem Absatz kehrt. Die Bürotür fiel hinter ihm knallend ins Schloss.
In das betretene Schweigen hinein klingelte Katharinas Handy. Automatisch griff sie in ihre Jackentasche und antwortete. Dr. Eric Neurath. Sie hörte noch, was er sagte. Dann rutschte ihr das Telefon aus der Hand. Die Staatsanwältin fing sie auf und führte sie zu einem Sessel.
»Melanie Wahrig ist tot«, murmelte Katharina. Verdammt, sie war doch sonst so hart im Nehmen. Polanski drückte ihr ein Glas in die Hand. Sie nahm einen Schluck. Kognak. Der Alkohol brannte wie Feuer. Aber wenigstens spürte sie ihren Körper wieder.
»Katharina?«, sagte Polanski leise. »Ich veranlasse gleich alles Notwendige. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus.«
Katharina dachte an den vorherigen Abend. Pizza. Shrek. Ein giftgrüner Teddybär.
»Jemand muss es Laura beibringen. Das ist die Tochter. Sie ist fast fünf«, erklärte sie mechanisch.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Polanski.
»Im Kindergarten.«
Polanski ging zum Telefon. Knapp gab er Anweisungen. Katharina bekam nur Bruchstücke mit: »Autopsie … sofort … keinen Aufschub … Jugendamt …«
Endlich war das Telefonat beendet. Katharina sah ihren Chef an: »Die Spurensicherung braucht sicher einen Schlüssel.«
»Katharina, erst brauche ich eine Bestätigung für das, was Sie mir erzählt haben. Aber Professor Metzel macht sich gleich an die Autopsie. Ich kümmere mich um alles.«
»Und jetzt?«, fragte Katharina.
»Jetzt fahren wir in den Kindergarten zur Tochter.«
»Sie auch?«
»Natürlich. Und Theresa Ludwig vom Jugendamt kommt auch mit.«
»Ich bin auch dabei«, verkündete Frauke Müller-Burkhardt resolut. Fast war Katharina ihr dankbar.
***
Zu viert hatten sie sich in den Mini gezwängt: Katharina, Polanski, Frauke Müller-Burkhardt und Theresa Ludwig. Katharina steuerte den Wagen durch den Frankfurter Freitagmittagsverkehr zu Lauras Kindergarten. Sie war froh über jede rote Ampel, jeden kleinen Stau – über alles, was den Moment hinauszögerte, in dem sie Laura beibringen musste, dass ihre Mutter gestorben war.
***
Elfie LaSalle empfing sie schon am Eingang der heruntergekommenen Altbauvilla. »Leise!«, flüsterte sie streng. »Mittagsschlaf.«
Polanski erklärte ihr, warum sie gekommen waren. Dann bat er die blass gewordene Kindergärtnerin, Laura zu holen. Elfie LaSalle führte sie zunächst in ein großes Spielzimmer. Dann verschwand sie.
Kurze Zeit später erschien sie mit Laura an der Hand, die sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Das Mädchen sah Katharina und stockte: »Mit Mama ist was passiert, oder?«
Polanski hockte sich vor sie hin: »Hallo Laura, ich bin Paul. Katharinas Chef.«
Sanft nahm er die kleine Hand des Mädchens in seine große Pranke und ging mit ihr zu einer Ecke des Zimmers, in der lauter große Kissen lagen. Dort setzte er sich mit ihr auf den Fußboden und begann, leise mit ihr zu sprechen.
Katharina war ihrem Chef unendlich dankbar. Doch Polanski würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Sie hatte erlebt, wie hart er Verdächtige anpackte. Mehr als einmal hatten sich von ihm Verhörte aus purer Angst in die Hosen gemacht. Es ging sogar das Gerücht, dass er in jüngeren Tagen auch das eine oder andere Mal zugeschlagen habe.
Und dann gab es diese andere Seite: Jederzeit war er bereit, seine Familie – die ihm unterstellten Beamten – zu unterstützen oder sich um die Opfer zu kümmern.
Polanski half Laura aufzustehen. Sie umklammerte seine Hand mit aller Kraft. Katharina konnte die weißen Druckstellen unter ihren Fingern sehen, als die beiden zu den Wartenden herüberkamen.
Laura ließ die Hand des Kriminaldirektors los und blieb vor Katharina stehen. Sie sah sie mit großen Augen an, ihre Haut war blass, fast grau. Katharina ging in die Knie und nahm das kleine Mädchen fest in den Arm.
Theresa Ludwig, die Jugendamtsmitarbeiterin, sprach als Erste wieder: »Tja, jetzt müssen wir uns wohl um den Verbleib des Kindes kümmern. Gibt es Angehörige in der Nähe?« Ihr Ton war kühl, geschäftsmäßig.
Elfie LaSalle antwortete: »Die Großeltern wohnen in Spanien, leider. Und ich habe zwar den Auftragsdienst des Vaters erreicht, aber die meinten, es kann ein paar Tage dauern, bis er sich meldet.«
»Dann muss die Kleine wohl in ein Heim.« Theresa Ludwig begann, in ihrer Handtasche zu kramen.
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Polanski. »Eine Pflegefamilie? Das Kind muss doch gut betreut werden.«
»So kurz vor dem Wochenende? Wie soll ich das denn organisieren?«
»Typisch Jugendamt«, murmelte Elfie LaSalle.
»Wie bitte?« fragte Theresa Ludwig giftig.
»Ich sagte: ›Typisch Jugendamt‹.« Elfie LaSalle baute sich vor Theresa Ludwig auf. »Nie in der Lage, rechtzeitig zu handeln, wenn es gebraucht wird. Aber ein Riesentheater um einen schwulen Vater machen.«
Polanski hob beschwichtigend die Hände: »Aber meine Damen!«
Doch Theresa Ludwig und Elfie LaSalle waren fest entschlossen, das jetzt und hier auszutragen.
»Solch eine Beurteilung übersteigt doch wohl Ihre Kompetenzen.« – »Immerhin habe ich tatsächlich Erfahrung im Umgang mit Kindern. Im Gegensatz zu Ihnen.«
Wo Elfie recht hatte, hatte sie recht, dachte Katharina. Es war wirklich nicht sehr taktvoll, vor einem Kind, das gerade seine Mutter verloren hatte, auszudiskutieren, wohin man es abschob. Sie stand auf: »Können wir jetzt wieder an Laura denken?«
»Halten Sie sich da raus! Das geht Sie nichts an«, fauchte Theresa Ludwig.
»Laura geht mich sehr wohl etwas an! Und ich will, dass sie gut untergebracht wird!« Katharina sprach leise. Doch ihr Ton ließ die beiden Frauen erschrocken einen Schritt zurück machen. Auch Polanski spannte seine Muskeln an.
Katharina spürte ein Zupfen an ihrer Jacke. Laura sah zu ihr hoch: »Kann ich nicht bei dir bleiben?«
Mit einem Schlag war Katharinas Zorn verraucht. Sie ging wieder in die Hocke, um mit dem Kind von Angesicht zu Angesicht zu reden: »Aber das geht doch nicht, Laura. Ich muss doch –«
»Warum eigentlich nicht?«, mischte sich Polanski ein. »Wäre das möglich?«, fragte er Theresa Ludwig. »Frau Klein ist eine meiner fähigsten Beamtinnen. Sie ist momentan … beurlaubt und hätte Zeit, sich um Laura zu kümmern. Außerdem ist sie eine Nachbarin. So wäre Laura in ihrer gewohnten Umgebung.«
Was machte Polanski da? Er konnte doch nicht einfach …
Theresa Ludwig musterte Katharina streng: »Das ist zwar ungewöhnlich, aber möglich ist das schon. Frau Klein? Sind Sie verheiratet?«
»Nein, warum?«
»Ich muss doch wissen, ob Sie in geordneten Verhältnissen leben.«
Katharina wollte am liebsten ihre ganz und gar ungeordneten Verhältnisse schildern, doch Polanski war schneller: »Frau Klein ist eine gute und verantwortungsbewusste Polizeibeamtin. Sie können sicher sein, dass ihre Verhältnisse geordnet sind.«
»Ja, bei ihr ist es ganz toll aufgeräumt!« Laura hatte sich fest an Katharinas Hand geklammert.
»Na dann …« Theresa Ludwig schien zufrieden.
Читать дальше