»Und wer bist du?«
»Ich heiße Andreas und bin Arzt. Weißt du, was das ist?«
»Klar. Du machst Menschen gesund.«
»Du bist aber schlau, Laura.«
»Ich bin ja auch schon fast fünf! Was bist du denn für ein Arzt?«
»Ich werde immer gerufen, wenn kleine Mädchen wie du nicht schlafen können.«
»Echt?«
»Echt! – Und du kannst also nicht schlafen?«
Laura nickte schüchtern.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was ich für dich tun kann.« Er stand auf und reichte Laura die Hand. Über die Schulter sagte er: »Sie entschuldigen mich? Ich muss mich um eine wichtige Patientin kümmern.«
Mit diesen Worten führte er Laura ins Gästezimmer. Seine sanfte Stimme drang durch die angelehnte Tür. Laura kicherte. Katharina war dankbar. Sie begleitete Frauke zurück ins Wohnzimmer. Sie setzten sich wieder, jede auf eine Seite des Sofas.
***
So saßen sie vielleicht eine halbe Stunde, bevor Andreas Amendt leise ins Wohnzimmer kam und die Tür anlehnte.
»Ein liebes Kind«, sagte er traurig.
»Schläft sie jetzt?«, fragte Katharina.
»Ja. Hoffentlich kann sie durchschlafen. – Hier, der Autopsiebericht von Lauras Mutter. Ich dachte, Sie wollten ihn vielleicht sehen.«
Katharina öffnete den Aktendeckel, den ihr Andreas Amendt gereicht hatte. Die Staatsanwältin eilte rasch in die Küche, um ein drittes Glas zu holen. Als sie zurückkam, war Katharina schon bei den Schlussfolgerungen.
»Der Tod ist vermutlich durch einen Unfall eingetreten«, wiederholte sie zweifelnd. »Aber wenigstens empfiehlt er eine polizeiliche Untersuchung. – Merkwürdig. Die Prellungen, die wir gefunden haben und die zwei Eindrücke werden gar nicht erwähnt.«
»Genau deswegen bin ich hier. Die Röntgenbilder und MRTs sind nämlich weg.«
»Weg?«
»Ja. Ich habe sie Professor Metzel ins Fach gelegt. Aber er behauptet, sie nicht bekommen zu haben. Und bei der Autopsie war nichts festzustellen. Eric hat bei seiner OP die Knochenränder glätten müssen. Leider.«
»Und die Prellungen?«
»Ich hatte auch einen kurzen Brief mit meinem Befund zu den Bildern gelegt. Anscheinend ist der auch verschwunden. – Hat die kriminalpolizeiliche Untersuchung irgendetwas ergeben?«
»Die Untersuchung?«, fragte Katharina erstaunt. »Bisher waren die noch gar nicht da.«
»Das ist aber seltsam. Die Tür von Frau Wahrigs Wohnung ist polizeilich versiegelt. – Oder waren Sie das?«
Katharina schüttelte den Kopf. Wie waren denn die Kollegen in die Wohnung gekommen? »Das ist wirklich merkwürdig. Ich habe nämlich den Wohnungsschlüssel. – Ich rufe Polanski an.«
Katharina holte ihr Telefon. Doch im Büro meldete sich niemand und auf dem Handy erreichte sie nur die Mailbox. Katharina bat um Rückruf. Aber sie kannte Polanski. Die wenigen Momente, die er seinem Privatleben gönnte, waren heilig. So rasch würde er sich nicht melden. Sie stand auf: »Ich gehe mich selbst in der Wohnung umschauen.«
Frauke hielt sie am Arm zurück. »Katharina, das ist keine gute Idee. Du bist suspendiert. Ohne offiziellen Auftrag die Siegel zu öffnen, ist eine Straftat.«
»Aber …« Katharina setzte sich halbherzig wieder.
»Lass mich das machen. Ich spreche morgen mit Polanski. Und die chronisch überbelastete Staatsanwaltschaft wird einfach sehr lange brauchen, bis die Akte bearbeitet und die Leiche freigegeben ist.« Frauke zwinkerte Katharina zu.
»Und jetzt?«
Katharina sah zu Andreas Amendt, der sich nachdenklich seine Bartstoppeln kratzte. »Die Schädelaufnahmen müssten in der Radiologie noch gespeichert sein. Aber da komme ich erst am Montag ran, vorher ist da niemand im Archiv.«
Sie schwiegen. Schließlich fragte Katharina erneut: »Und jetzt?«
»Jetzt …«, sprudelte die Staatsanwältin hervor. »Jetzt spielen wir eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht.«
Sie zeigte auf das Paket, das sie mitgebracht hatte und das immer noch eingepackt auf dem Wohnzimmertisch lag: »Ich dachte, Katharina hat vielleicht nichts zum Spielen im Haus.« Sie begann, das Papier von dem Paket zu entfernen.
»Ich weiß nicht«, sagte Katharina zweifelnd.
»Ach komm – eine Partie. Das bringt euch auf andere Gedanken. Den Fall werden wir heute Abend sowieso nicht lösen.«
***
Sechs Partien und zwei Flaschen Wein später stand es ausgeglichen. Katharina war an der Reihe. Mit etwas Glück … Tatsächlich konnte sie ihren letzten roten Stein ins Haus befördern. Sie hatte gewonnen. Entspannt lehnte sie sich zurück. Polanski wäre stolz auf sie: zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen Alkohol – und jetzt auch noch in geselliger Runde mit Kollegen!
Frauke wollte aufstehen. »Ich glaube, ich muss dann mal …« Ihre Beine gaben nach. Sie hatte wohl etwas viel Wein getrunken.
»Also so kann ich euch wirklich nicht nach Hause fahren lassen«, sagte Katharina. »Warum übernachtet ihr nicht einfach hier?«
Sie war selbst überrascht von ihrem spontanen Anfall von Geselligkeit. Aber sie wollte nicht allein sein.
Andreas Amendt erhob sich: »Ich kann wirklich …«
»Ach bitte. Dann können wir morgen gleich mit Polanski reden. Und Laura ist sicher froh.«
»Ich finde, das ist eine prima Idee«, verkündete Frauke. »Und wo sollen wir …?«
»Also das Sofa hier ist ein Schlafsofa. Man kann es ausklappen.«
»Au fein, und wir Mädchen teilen uns dein Bett. Dann feiern wir noch eine kleine Pyjamaparty.«
Das hatte Katharina gerade noch gefehlt. Aber es war wohl die einzige Möglichkeit. Dr. Amendt konnte sie ja schlecht zu sich ins Bett einladen.
***
Es dauerte eine Weile, bis Katharina ihre Gäste mit T-Shirts, Zahnbürsten und sonstigem Zubehör für die Nacht versorgt hatte.
Andreas Amendt lag auf dem ausgeklappten Schlafsofa unter eine Wolldecke. Frauke war bereits im Schlafzimmer verschwunden.
Katharina wollte noch einmal nach Laura sehen. Je länger sie brauchte, desto eher war Frauke bereits eingeschlafen.
Leise öffnete Katharina die Tür zum Gästezimmer. Sie ging im Dunkeln zu Lauras Bett und strich ihr sanft über die Haare. Das Kind sah so zerbrechlich aus, so klein. Sie bemerkte, dass Lauras Augen offen waren. »Hab ich dich geweckt?«
»Nein. Ich bin wieder aufgewacht. Und jetzt kann ich nicht mehr einschlafen.«
»Aber warum sagst du denn nichts?«
Laura setzte sich auf und fragte leise: »Du? Deine Familie – kommt die dich jede Nacht besuchen?«
»Nein, nur manchmal.« Katharina hielt inne. »Du wartest darauf, dass deine Mama dich besuchen kommt, wenn du träumst, oder? Dann musst du aber schlafen.«
»Ich weiß. Ich will ja auch.« Laura ließ den Kopf hängen. Katharina nahm sie in den Arm.
»Du, Katharina? Das mit meiner Mama – waren das böse Menschen?«
Katharina seufzte.
Laura verstand sie richtig. »Fängst du die und sperrst sie ein für immer? Versprichst du mir das?«
***
Autumn Leaves
Samstag, 24. November 2008
Der Regen prasselte in schweren Schüben gegen die große Panoramascheibe. Doch im Kamin flackerte ein kräftiges Feuer. Katharinas Vater mochte gerade einen Witz erzählt haben, eine Anekdote von einer Geschäftsreise, denn Susanne, Katharinas Schwester, kicherte und hielt sich gleich danach den Bauch, der sich rundlich unter ihrem T-Shirt abzeichnete.
Sie saßen um den großen Kamin im Wohnzimmer ihrer Eltern: Katharina, ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester.
Mit einem Knall zerbrach das Panoramafenster. Durch den Scherbenregen schritt eine Gestalt – gehüllt in eine schwarze Kutte, das Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen. Ohne Eile hob sie die silbern glänzende Pistole.
Katharina hörte die Schüsse nicht, die ihren Vater, ihre Mutter trafen. Sie hörte nur das Flehen ihrer Schwester. Ein Schuss in den Bauch, einen in den Kopf. Susannes T-Shirt verfärbte sich dunkel, während sie auf ihren Sessel zurücksank. Ihr Kopf hing schlaff über der Lehne. Blut rann über das beige Wildleder.
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