»Papillarleisten«, half Andreas Amendt aus.
»Papillaren«, wiederholte Laura glücklich. Sie lutschte das Wort wie ein besonders leckeres Bonbon. »Papillaren, Papillaren, Papillaren …«
»Und? Was sagen die Hörnchen?«, fragte Andreas Amendt.
»Haben uns spazieren geschickt. Wird wohl eine längere Untersuchung.«
***
Tatsächlich hatte der Novemberhimmel ein paar Strahlen Sonne durchgelassen, die auf dem Mainwasser glitzerten und selbst die sonst so bedrohlichen Hochhäuser der Frankfurter Skyline in ein freundliches Licht tauchten. Und so gingen die drei am Main spazieren. Katharina und Andreas Amendt nahmen Laura in die Mitte, schwangen sie hin und wieder an ihren Armen durch die Luft. Doch allmählich wurde es ihnen zu kalt. Also schlug der Arzt vor, eine gute Freundin von ihm zu besuchen.
Er führte sie in eine Seitengasse des Sachsenhäuser Ufers und blieb vor einer unscheinbaren Tür stehen, über der ein kleines Schild hing: Blaues Café.
Stufen führten hinunter in ein Gewölbe, das weder blau war, noch irgendeinem Café ähnelte, das Katharina kannte:
Kerzen brannten auf den Tischen, ein paar trübe flackernde Öllampen an den Wänden vermochten kaum Licht in die Dunkelheit zu bringen. Sofas, Sessel, aber auch einfache Holzstühle standen um die absurdeste Sammlung von Tischen, die Katharina je gesehen hatte.
Auf einer kleinen Bühne am Ende des Gewölbes stand jedoch ein moderner Verstärker, an dem eine halbakustische Gitarre lehnte.
Laura klammerte sich an Katharinas Hand. »Toll«, sagte sie nicht sehr überzeugt.
»Das ist das Blaue Café«, erklärte Andreas Amendt. »Mein zweites Wohnzimmer.«
»Andreas, bist du das?«, fragte eine kräftige Alt-Stimme. Um die Theke herum kam eine Frau. Sie war groß und – Katharina suchte nach dem passenden Wort, nicht dick, sondern – üppig. Ein Schwall roter Haare umfloss ihre Schultern. In ihrem sommersprossigen Gesicht funkelten zwei grüne Augen. Sie mochte Mitte fünfzig sein.
»Darf ich vorstellen, Marianne Aschhoff. Und das hier ist Katharina Klein, eine Kollegin.«
Marianne Aschhoff musterte Katharina eindringlich: »Ärztin?«
»Nein, Kriminalpolizei«, antwortete Katharina verlegen.
Marianne Aschhoffs Blick kühlte ab. »So, so.«
Laura hatte sich hinter Katharina versteckt. Marianne Aschhoff ging in die Hocke und streckte ihr die Hand hin. »Und du bist?«
»Ich bin Laura. – Du bist doch keine Hexe, oder?«
Marianne Aschhoff lachte, dass der Raum bebte. »Nein, Laura. Versprochen.«
Laura war noch nicht recht überzeugt und zog sich wieder hinter Katharina zurück. Marianne Aschhoff erhob sich.
»Andreas, was führt dich hierher?«
»Ach, wir waren spazieren, und da dachte ich …«
»Du dachtest, du schlägst zwei Fliegen mit einer Klappe und besuchst eine alte Freundin. Das freut mich.«
Andreas Amendt führte Laura und Katharina zu einer Nische, in der ein mit zerschlissenem rotem Samt bezogenes Sofa und ein schwerer Ledersessel um einen Nierentisch standen. Laura kletterte auf das Sofa und zog Katharina mit sich. Andreas Amendt ließ sich in den Sessel sinken. »Marianne ist meine beste und älteste Freundin in Frankfurt.«
Wie aufs Stichwort erschien die Wirtin an ihrem Tisch. »Lass mich raten, Andreas. – Einen Milchkaffee für dich. Und für die Damen?«
»Für mich auch einen Milchkaffee«, sagte Katharina.
»Hast du Kakao?«, fragte Laura.
Marianne Aschhoff lachte wieder. »Natürlich. – Also: zwei Milchkaffee und einen Kakao.« Sie glitt fast lautlos davon. Katharina sah ihr nach.
Andreas Amendt sagte beruhigend: »Keine Sorge, sie ist wirklich keine Hexe.«
Katharina schüttelte den Kopf. »Nein, ich frage mich, woher ich diese Stimme kenne.«
»Das wäre nicht weiter verwunderlich. Marianne war … ist eine bekannte Jazz-Sängerin. Irgendwann hat sie dieses Gewölbe entdeckt und das Blaue Café eröffnet. Jazz ist leider eine brotlose Kunst.«
***
Marianne Aschhoff stellte zwei Tassen vor Andreas Amendt und Katharina, die in den feinen Cafés der Frankfurter Innenstadt als Suppenterrinen für vier Personen durchgegangen wären. Lauras Tasse war nur unwesentlich kleiner.
»Hui, das ging aber schnell«, stellte das Mädchen fest.
»Weißt du, ein bisschen hexen kann ich schon«, schmunzelte die Wirtin. »Außerdem hilft mir Frankieboy. Das ist mein Zaubervogel.«
»Echt? So was gibt’s doch gar nicht.« Laura musterte Marianne Aschhoff misstrauisch.
»Doch, dort bei der Theke, siehst du?«
Katharina sah ebenfalls hin. In einem großen Käfig neben der kleinen Bar saß ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel. Ein Beo.
»Willst du mal schauen? Frankieboy kann sogar singen.«
Ängstlich kletterte Laura vom Sofa. Sie versicherte sich immer wieder mit einem Blick über die Schulter, dass sie Katharina noch sehen konnte, während sie hinter der Wirtin herging.
Marianne Aschhoff klopfte sanft an den Käfig. »Hallo, Frankieboy!«
Der Vogel krächzte zur Antwort: »I did it my way. I did it my way.«
Die Wirtin gab Laura ein paar Körner, die das Mädchen vorsichtig durch die Gitterstäbe steckte. Dankbar pickte der Vogel danach, legte den Kopf in den Nacken, schluckte und krächzte: »Moon River, wider than a mile.«
Laura kicherte. Marianne Aschhoff hob sie auf einen Barhocker, damit sie den Vogel besser betrachten konnte.
Katharina nahm einen genießerischen Schluck vom Milchkaffee.
»Strangers in the night!« Laura hatte Frankieboy offenbar ein weiteres Korn gegeben.
Nach einem Moment des Schweigens hob Andreas Amendt den Kopf: »Sie haben die beiden Mörder Ihres Kollegen erschossen, oder?«
Katharina setzte an, etwas zu sagen, schluckte aber die Worte hinunter.
»Ja?«, fragte der Arzt.
»Vermutlich haben Sie recht. Jäger und Gejagte gleichen sich irgendwann an.«
Sie wartete auf eine Reaktion: dass Andreas Amendt sie anschrie, ihr eine Ohrfeige gab – irgendetwas. Aber er sah sie nur weiter an.
Dann stand er mit einem Ruck auf und ging auf die kleine Bühne. Er nahm die Gitarre, betätigte einen Schalter am Verstärker, setzte er sich auf einen Stuhl und begann zu spielen.
Katharina erkannte das Stück nach wenigen Takten: Autumn Leaves. Das Lieblingslied ihrer Schwester Susanne. Ihr Magen zog sich zusammen. Das war schlimmer als die stärkste Ohrfeige. Sie verbarg das Gesicht in den Händen.
Sie spürte, wie sich jemand neben sie setzte. Marianne Aschhoff. »Alles in Ordnung?«
Jetzt wusste Katharina, woher sie die Stimme kannte. Susanne hatte ihr eine Kassette nach Kapstadt geschickt: »Autumn Leaves« war das erste Stück – gesungen von einer dunklen Frauenstimme, nur von einer Gitarre begleitet.
Immer wieder hatte Katharina den Brief gelesen, in dem ihre Schwester ihr berichtete, dass sie verliebt, verlobt und schwanger war. Knapp einen Monat, nachdem sie diesen Brief geschrieben und ihr zusammen mit der Kassette geschickt hatte, war Susanne tot.
»Haben Sie das nicht auch mal gesungen?«
»Wer nicht? – Ein Klassiker.«
»Und auch aufgenommen? Mit Gitarrenbegleitung?«
»Der Gitarrist sitzt gerade dort auf der Bühne. – Es waren bessere Zeiten damals. Für mich, für Andreas.«
»Sie kennen Doktor Amendt schon lange?«
»Seine Mutter war meine beste Freundin. – Und als seine Eltern … tödlich verunglückt sind, da … Aber vermutlich sollte ich Ihnen das alles gar nicht erzählen.« Marianne Aschhoff nippte an ihrem Glas. Dann fragte sie: »Laura ist nicht ihre Tochter, oder?«
»Nein. Wie sollte eine Halbkoreanerin zu einem blonden, blauäugigen Kind kommen?«
Marianne Aschhoff musterte Katharina nachdenklich. »Halbkoreanerin? Interessanter Zufall.«
Katharina kam nicht dazu, zu fragen, was Marianne Aschhoff damit meinte. Ihr Handy klingelte schrill. Die Hörnchen.
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