Susanne saß auf dem Geländer der Bücke, mit dem Rücken an einen der Stahlträger gelehnt. Das Wasser des Mains glitzerte. Katharinas Schwester hatte sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars neongrün gefärbt – ihre Form jugendlicher Rebellion. Sie trug ein altes T-Shirt und eine kunstvoll-löcherige Jeans. Ihre Sonnenbrille hatte sie lässig ins Haar geschoben.
»So, so. Du hast also Marianne Aschhoff kennengelernt.« Susanne kicherte.
»Du kennst sie auch?«
»Klar. In ihrem Café habe ich meinen Schatz getroffen. Hab ich dir doch geschrieben.«
Richtig. Susanne hatte ihren Verlobten kennengelernt, als sie ihre Eltern in einen Jazzclub begleitete. Ihr Vater mochte Jazz über alles.
Susanne lehnte sich vor: »Geht's dir gut, Katharina?«
»Ach, wie man's nimmt. Eigentlich schon.«
»Du hast einen Mann kennengelernt?«
»Du meinst Doktor Amendt?«
»Mein Gott, wie förmlich.« Susanne ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen: »Doktor Amendt.«
»Wir arbeiten zusammen. Er ist Rechtsmediziner.«
»Ja, und?«
»Nichts und!«
»Ach? Meine tapfere kleine Polizistenschwester ist ein Feigling?«
»Bin ich nicht!«
»Feigling. Feigling«, summte Susanne vor sich hin. Katharina schwieg. Ihre Schwester schloss die Augen und ließ sich das Gesicht von der Sonne bescheinen. »Und Laura? Wie kommt ihr zurecht? – Kinder sind klasse, nicht wahr? – Du solltest übrigens mal kurz aufwachen und nach ihr sehen. Irgendwas stimmt nicht. Bis später, Schwesterherz.«
***
Katharina schreckte aus dem Schlaf hoch. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Kurz nach drei. Was hatte Susanne gesagt? Irgendetwas mit Laura stimmte nicht? Katharina stand auf, schlich vorsichtig zum Gästezimmer und öffnete leise die Tür.
Laura saß auf ihrem Bett und weinte.
»Was ist denn, Liebes?«
Laura fiel Katharina um den Hals und weinte noch heftiger.
»Mama war hier«, stieß das Mädchen schniefend hervor. »Hat mir vorgelesen. – Und dann war sie weg.«
»Du hast geträumt, Laura.«
»Nein. Mama war hier! – Guck mal, das Buch.«
Laura deutete auf den Boden. Dort lag das große Märchenbuch, das Katharina aus Lauras Zimmer mitgebracht hatte. Das Kind musste es im Traum vom Nachttisch gestoßen haben.
»Ist Mama jetzt ein Geist?«
»Du hast geträumt, Laura. Ich hab dir doch gesagt, manchmal kommen die Toten uns besuchen, wenn wir schlafen.«
»Und wenn wir wach sind? Kommen sie dann?«
Was sollte sie nur antworten? Katharina schüttelte traurig den Kopf.
Laura begann wieder leise zu weinen. Katharina spürt die Tränen durch ihr T-Shirt sickern. Wie konnte sie Laura nur trösten? Was hätte Susanne gemacht? Susanne hätte …
»Magst du mit bei mir im Bett schlafen, Laura?«
***
Der Sonntag begann trüb, grau und regnerisch. Katharina hatte tief und traumlos geschlafen, bis Laura sie geweckt hatte. Jetzt saßen sie am Küchentisch, tranken Kakao und sahen aus dem Fenster. Eigentlich ein Tag, um im Bett zu bleiben, schlechte Fernsehserien zu sehen und Schokolade zu essen.
Doch Katharina war unruhig. Sie wusste nicht genau, was sie machen sollte, aber es behagte ihr nicht, untätig zu Hause herumzusitzen.
Vielleicht sollte sie mit dem Kind irgendetwas unternehmen. Nur was? Museum? Kino? Einfach spazieren zu gehen war bei dem Wetter wohl nicht drin.
Katharinas Blick fiel auf das Navigationssystem, das immer noch verpackt neben der Obstschale stand. Sie hatte eine Idee: »Laura? Hast du schon mal zugesehen, wenn ein Auto repariert wird?«
Laura schüttelte neugierig den Kopf.
»Sollen wir mit Morris in eine Werkstatt fahren?«, fragte Katharina.
»Ist Morris denn kaputt?«
»Nein, aber er könnte einen Ölwechsel vertragen.«
»Ölwechsel, Ölwechsel.« Das Wort schien Laura zu gefallen. »Oh ja.«
***
Henry Mörichs Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt lag an einer einsamen Landstraße kurz hinter Enkheim. Mörichs Frau betrieb ein kleines Hotel auf dem gleichen Grundstück. Kein sehr erfolgreiches Geschäft, doch die beiden kamen zurecht. Katharina wusste auch, warum. Gelegentlich frisierte Mörich geklaute Autos, und das Hotel war unter Eingeweihten ein bekannter Treffpunkt für Dinge, die man lieber mit gebotener Diskretion erledigte.
Henry Mörich lehnte hinter der Theke des kleinen Ladengeschäfts und rauchte. Automatisch fuhr seine Hand unter den Tresen, als Katharina hereinkam. Dort gab es einen Knopf für stummen Alarm, der Besucher des Hotels vor unliebsamen Überraschungen warnte.
»Entspann dich, Henry. Ich bin privat hier. Morris braucht mal wieder einen Ölwechsel.«
»Schon klar.« Henry warf ihr den Werkstattschlüssel zu.
»Außerdem brauche ich vielleicht deine Hilfe.«
Henry seufzte.
»Nicht, was du denkst. Ich will ein Navigationssystem in Morris einbauen. Und endlich auch die Zentralverriegelung.«
»Na, wenn's weiter nichts ist.« Wenn Katharina Hilfe brauchte, war das manchmal nicht ganz ungefährlich und oft nicht ganz legal. Besonders, wenn sie auf Henrys Können im Umgang mit Schließvorrichtungen aller Art angewiesen war.
Er kam um den Tresen herum. Jetzt erst sah er Laura, die sich wieder hinter Katharina zurückgezogen hatte. »Du bist sicher Laura, oder?« Henry reichte dem Mädchen seine schwielige Hand.
Katharina schmunzelte: »Neuigkeiten reisen schnell, nicht wahr?«
»Hans und Lutz waren gestern hier. Kurtz hatte drüben ...«, er deutete mit dem Kopf in Richtung Hotel, »... eine geschäftliche Besprechung mit ein paar Russen. Kroppzeuch. Und dumm wie Stroh. Hans und Lutz haben Wanzen an ihren Autos angebracht.«
Die Russen. Das Sammelwort ihres Patenonkels für alles, was an organisierter Kriminalität aus dem Osten nach Deutschland schwappte. Bisher hatten Kurtz und seine Mitstreiter sie gut in Schach halten können. Katharina hoffte, dass es so blieb.
»Haben Hans und Lutz noch was erzählt?«
»Lutz nicht.« Henry und Katharina lachten. Lutz' Einsilbigkeit war legendär. »Aber Hans. Irgendwas von einem Top-Secret-Beschattungsauftrag. Lutz hat ihn aber gebremst, bevor er mehr ausplaudern konnte.«
Deshalb waren die beiden also im Supermarkt gewesen.
»Hat er gesagt, um wen es geht?«
Henry schüttelte den Kopf: »Nee. Nur dass es wahnsinnig wichtig ist. Muss es ja auch wohl. Sonst würde Kurtz wohl kaum Hans und Lutz beauftragen.«
Katharina schüttelte grinsend den Kopf: »Caluha besorgen.«
»Was?«
»Ach nichts. Nur ein Gedanke.«
***
Katharina arbeitete gern in der kleinen, gut eingerichteten Werkstatt. Hier hatte sie Morris restauriert. Als sie ihn fand, war er wenig mehr als ein Schrotthaufen gewesen. Jetzt war er fast im Originalzustand – mit ein paar Zugeständnissen an die Moderne. Henry hatte ihr geholfen, den starken Motor noch weiter zu tunen und das Fahrwerk anzupassen. Jetzt hatte der kleine Wagen über hundertfünfzig PS und hielt auch die schärfsten Kurven aus.
Katharina fuhr Morris auf die Hebebühne. Währenddessen fragte Henry Laura, ob sie vielleicht seine Kaninchen sehen wolle. Doch Laura wollte lieber Katharina zuschauen.
»Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen: ganz die Mutter.« Henry duckte sich rasch, als Katharina einen Schraubenschlüssel nach ihm warf.
***
Irgendwann hatte Laura sich die Kaninchen doch noch angesehen. Dann war sie in ihren Gummistiefelchen durch die Wiesen um die Werkstatt gestapft und hatte einen interessant glänzenden Stein gefunden, den sie sorgfältig polierte.
Der Einbau von Navigationssystem und Zentralverriegelung hatte länger gedauert, als Katharina gedacht hatte. Morris, ein Auto der Sechziger, schien moderne Elektronik als Fremdkörper zu betrachten, die es abzustoßen galt. Aber zuletzt hatten sie und Henry das Unmögliche doch noch vollbracht. Es war zwar Freistil-Elektrik, aber es funktionierte. Selbst die Blinker leuchteten kurz auf, wenn man auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung drückte.
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