Ausgerechnet Dr. Andreas Amendt musste an diesem Tag Dienst haben. Der Neue. Kaum sechs Wochen in der Rechtsmedizin Frankfurt, hatte er sich schon sämtliche Abteilungen der Kriminalpolizei zum Feind gemacht.
Katharina hatte in einem Rundschreiben seine Vita gelesen. Neurologe. Rechtsmediziner. Und mit gerade mal neununddreißig Jahren stellvertretender Chefarzt des Zentrums. Ein Karriere-Arzt, der mit Macht nach oben wollte - eindeutig.
Sie war gespannt, wie dieser Mann aussah: vermutlich früh ergraut, hager, verkniffen, die Augen hinter einer Brille mit Stahlrahmen verborgen.
Lustlos machte Katharina sich auf die Suche nach der Dienstbotentreppe.
***
»Die Leichenschau …«, fing jemand an zu reden, noch bevor er den Raum richtig betreten hatte, »… ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben für den Arzt. Was Sie finden oder nicht finden, ist für die Aufklärung eines Todesfalls von entscheidender Bedeutung.«
Autopsie III war gut besucht. Zwanzig Studenten schrieben eifrig in ihre Notizbücher, während der Sprecher hinter den mit einem Tuch abgedeckten Autopsietisch in der Mitte trat: Es war der junge Mann, der Katharina vorhin geholfen hatte.
»Mein Name ist Andreas Amendt«, stellte er sich vor. »Und die meisten von Ihnen werden bei meiner Prüfung durchfallen. In Freiburg nannte man mich auch das Exmatrikulations-Amt.«
Einige Studenten lachten unsicher. Dr. Amendt zog eine Fernbedienung aus der Tasche seines Kittels und schaltete damit zwei Monitore an. Auf blauem Hintergrund wiederholten Bullet Points seine Worte, während er weitersprach:
»Die Leichenschau stellt drei Fragen: Wodurch ist der Tod eingetreten? Wann ist der Tod eingetreten? Und, nicht zu vergessen: Ist der Tod überhaupt eingetreten?«
Dr. Amendt steckte die Fernbedienung zurück in seinen Kittel. Dann fuhr er fort: »Die erste Frage kann die äußere Leichenschau nur in sehr engen Grenzen beantworten. Aber sie kann uns wertvolle Hinweise geben. Für die Leichenschau wird eine Leiche grundsätzlich vollständig entkleidet.«
Mit diesen Worten zog er das Tuch vom Tisch und enthüllt den Körper einer jungen Frau. Sie war nackt und auch im Tode noch ausgesprochen schön: blond, schlank, wohlgeformte Brüste.
Mehrere Studenten stießen sich an. Einer pfiff leise. Dr. Amendt musterte ihn abfällig, der Student verstummte.
Der Arzt deutete auf den Pfeifer: »Sie!«
Der Student fragte erschrocken: »Ich?«
»Ja, Sie. Unsere Tote wurde letzte Nacht aufgefunden. Keine bekannte Erkrankung, keine andere medizinische oder juristische Vorgeschichte. Was fällt Ihnen auf?«
»Äh, nichts.«
»Dann treten Sie näher heran. Genaue Beobachtung ist für die Leichenschau das A und O.«
Der Student schlich an den Tisch wie ein Bombenentschärfer an einen Sprengsatz. Er starrte auf das junge Mädchen.
»Also, was fällt Ihnen auf?«
»Äh, nichts.«
»Was heißt nichts?«
»Nichts Besonderes?«
»Was wäre denn besonders?«
»Vielleicht Verletzungen?«, fragte der Student schüchtern.
»Gut. Also keine Verletzungen. Was noch?«
»Keine Hautverfärbungen?«
»Auch gut. Also, was fällt Ihnen auf?«
»Nichts.«
»Gut. Dann drehen sie die Leiche mal um.«
Der Student rieb sich die Hände am Kittel und wollte zufassen.
»Handschuhe!«, wies ihn Dr. Amendt zurecht.
Der so Vorgeführte mühte sich, seine Hände in die Einweghandschuhe zu zwängen, die ihm der Rechtsmediziner reichte. Dann fasste er die junge Frau vorsichtig an.
»Etwas mehr Kraft werden Sie wohl brauchen.«
Endlich lag die Frau auf dem Bauch.
»Also, was fällt Ihnen auf?«
»Nichts.«
»Gut, dann drehen Sie sie wieder auf den Rücken.«
Als auch das geschafft war, fragte Dr. Amendt erneut: »Was ist Ihnen aufgefallen?«
»Äh, nichts.«
»Also?«
»Nichts.« Gleich würde der Student anfangen zu weinen.
»Nichts? Und das fällt Ihnen nicht auf? Eine junge Frau, offenbar gesund? Keine Verletzungen? Sie dürfte dem äußeren Anschein nach gar nicht tot sein. – Also: Was liegt hier vor?«
Er ließ den Blick über die Studenten schweifen. Sie senkten die Häupter. Wer von ihnen würde wohl der Nächste sein? Endlich murmelte einer »Drogen«, »Gift« ein anderer. Schließlich schlug noch jemand vor: »Innere Verletzungen?«
»Bitte, geht doch. – Wer möchte es jetzt mal versuchen?«
Offenbar niemand – zumindest nicht freiwillig. Dr. Amendt deutete auf Katharina: »Sie vielleicht?«
»Ich? Aber –«
»Nicht so schüchtern. Kommen Sie.«
Katharina wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Hilfesuchend blickte sie zu den Monitoren, auf denen immer noch die letzte Frage blinkte: »Ist der Tod überhaupt eingetreten?«
Wirklich? War es so einfach? Sie betrachtete die junge Frau genauer, während sie sich ein paar Handschuhe überstreifte.
»Keine Leichenflecken«, stellte sie fest. Dann tastete sie unauffällig nach dem Puls am Hals der vermeintlichen Leiche: Er schlug kräftig und gleichmäßig. Sie nahm einen Oralspiegel vom Instrumententisch und hielt ihn vor die Nase der „Toten“. Er beschlug sofort.
Nachdenklich trat Katharina einen Schritt zurück: »Tja …«
»Und?« Bei aller Contenance konnte sich der Rechtsmediziner ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ich denke, wir können die Patientin als geheilt entlassen. Sie lebt und ist allem Anschein nach gesund.«
Die junge Frau auf dem Tisch öffnete die Augen und grinste zu Katharina hinauf. Sie wollte sich aufsetzen, doch Dr. Amendt hielt sie zurück: »Woher wissen Sie, dass sie wirklich gesund ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber da Sie ein guter Arzt sind, werden Sie wohl kaum riskieren, dass die Patientin sich doch noch den Tod holt.«
Dr. Amendt nickte wohlwollend und sagte zu der auf dem Tisch Liegenden: »Es ist gut, Frau Söhnlein. Sie können sich jetzt anziehen.«
Die Angesprochene sprang schwungvoll vom Tisch und hängte sich das Tuch, das vorher auf ihr gelegen hatte, um wie eine Toga. Dann schritt sie majestätisch nach draußen.
»Das war sehr gut, Frau …?«
»Klein. Ich –«
Weiter kamen sie nicht.
Einer der Studenten war umgefallen. Katharina hatte ihn vorher schon bemerkt, weil er sehr dick war und trotz der Kühle im Autopsiesaal schwitzte. Jetzt lag er auf dem Fußboden, das Gesicht so weiß wie sein Kittel. Dr. Amendt und Katharina stürzten zu ihm. Der Arzt tastete nach dem Puls, dann bedeutete er Katharina, ihm zu helfen, den Mann in die stabile Seitenlage zu drehen. Danach rief er über ein Telefon an der Tür den Notdienst. Nachdem er aufgelegt hatte, fragte er die Studenten streng: »Die Ursache für den Kollaps, meine Damen und Herren?«
Keiner regte sich.
»Das ist ja eine Katastrophe mit Ihnen.« Andreas Amendt schüttelte den Kopf. Katharina, die noch immer neben dem Bewusstlosen kniete, sah auf: »Diabetes, würde ich sagen.« Sie zog die Brieftasche des Mannes hervor. Tatsächlich steckte ganz oben eine Diabetes-Hinweiskarte. Sie reichte sie Dr. Amendt.
»Sehr gut, Frau Klein.«
***
Endlich kamen die Sanitäter. Der Rechtsmediziner erteilte ihnen knappe Anweisungen. Dann wandte er sich an die Studenten, die ihre Schreckensstarre noch immer nicht ganz abgeschüttelt hatten: »Da es Ihnen offenbar an Grundlagen fehlt, ist nächste Woche Testat. Sichere und unsichere Todeszeichen sowie verschiedene Formen des Scheintods. Gehen Sie in die Bibliothek. Zu den Grundlagenlehrbüchern. Jetzt! Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie Antworten auf meine Fragen haben.«
Die Studenten gingen langsam aus dem Raum, leise über die Ungerechtigkeit dieser Welt lamentierend. Katharina und Dr. Amendt blieben zurück.
»Hin und wieder trifft man also doch Studenten, die wenigstens ansatzweise begriffen haben, worum es in der Medizin geht«, sagte der Arzt anerkennend.
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