»Sie werden verlangt, Chef!«, sagte er nach ein paar einleitenden Worten zu Brown, der auf Crowlers Zurufs umgekehrt war.
Der Inspektor nahm den Hörer, den ihm Crowler reichte, und zuckte zusammen. Wieder war es eine greisenhaft, zitterige Stimme. Sie klang nicht unähnlich der gerade gehörten, die so gejammert hatte.
»Hallo …? Sind Sie es, Inspektor Brown? Ich versuche schon seit einer Viertelstunde, Sie zu erreichen, aber es will mir nicht gelingen … Unser Telefon funktioniert nämlich nicht …«
»Wenn Sie eine Störung anmelden wollen, dann wenden Sie sich gefälligst an die Zentrale … Hier ist Scotland Yard!«, erwiderte Brown kratzbürstig.
»Nein. Nein«, kam es aufgeregt zurück. »Sie missverstehen mich, Sir! Es handelt sich nicht um eine Störung … Man hat bei uns eingebrochen … Jawohl … Als ich vor einer halben Stunde in das Büro meines Chefs kam, fand ich den Tresor aufgebrochen vor …«
»Was?«, stieß Brown erstaunt aus. »Noch ein Tresor …?«
»Nein … nur einer! … Der meines Chefs … Hier spricht nämlich Scott … Prokurist Allan Scott …!«
»Noch ein Scott?!«, wiederholte Inspektor Brown verblüfft.
»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, entgegnete die alte Stimme ratlos. »Aber ich fand neben dem Tresor einen Zettel und darauf stand, dass ich mich wegen der Anzeige an Detective Inspector Brown wenden soll.«
Der Inspektor glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
»Einen Zettel …? Wegen der Anzeige an mich wenden? Was sagen Sie da?«, brachte er mit einem keinesfalls geistreichen Gesichtsausdruck hervor.
»Jawohl, Inspektor Brown!«, bestätigte der Prokurist. »Aber das Ereignis hat mich derart überrascht, dass mir jetzt noch die Knie zittern.«
Brown konnte sich nicht länger beherrschen.
»Halten Sie mich nicht mit Ihren zitternden Knien auf!«, rief er in den Apparat. »Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann …«
»Sie müssen mir schon verzeihen«, erklang es daraufhin verschreckt in der Hörmuschel. »Aber ich bin nicht mehr der Jüngste … Ich bin seit fünfunddreißig Jahren Prokurist der Firma ›Pears‘ Soap‹ …«
»›Pears‘ Soap‹!«, echote Inspektor Brown, der an eine Sinnestäuschung glaubte. »Sagten Sie gerade: ›Pears‘ Soap‹?!«
»Jawohl!«
Browns Zornesadern schwollen an. Das war einfach zu viel. So etwas wie heute morgen war ihm in seiner ganzen Zeit beim Yard noch nicht vorgekommen. Da rief ihn so ein alter Narr doch gleich zweimal hintereinander an und erzählte ihm ein und dieselbe Geschichte. Wie kam der Mann nur dazu, ihm auf diese Weise die Zeit zu stehen, und das wegen eines simplen Einbruchs!
»Mister Scott!«, brüllte er in das Mikrofon. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Es ist noch keine fünf Minuten her, da haben Sie mir die Geschichte von ihren zitterigen Knien und der erbrochenen Kindersparbüchse lang und breit erzählt, und jetzt wollen Sie damit von vorn anfangen? Ja, glauben Sie denn, dass ich meine Zeit gestohlen habe?«
»Ich …? Ich …?«, kam es jämmerlich aus der Hörmuschel. »Ich hätte? Aber Sie irren sich, Inspektor! Sie müssen sich irren … Ich habe Sie ja bisher nicht erreichen können … Glauben Sie mir, Sir! Ich spreche das erste Mal mit Ihnen!«
Inspektor Brown atmete mehrmals tief durch und fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn. Noch einmal sog er Luft ein und blies sie langsam wieder hinaus. Dann wandte er sich an Sergeant Crowler, der inzwischen seine kalte Pfeife wieder hervor geholt und zwischen die Zähne gesteckt hatte.
»Dann … Dann haben die Gauner selbst angerufen … Der Tag fängt ja richtig gut an …« Und die Hörmuschel wieder ans Ohr drückend fuhr er fort: »Hallo, Mister Scott! Erwarten Sie mich! Ich komme sofort zu Ihnen!«
Kapitel 6
Professor van den Broek stand vor dem Spiegel des Ankleidezimmers. Umständlich band er sich die Krawatte. Wieder und wieder schlang er den Knoten, der ihm nicht vollkommen genug erscheinen wollte. Zwischendurch musterte er, jeden unbeobachteten Augenblick nutzend, den hinter ihm im Boudoir hantierenden Mann. Es war sein Diener James.
Endlich schien ihm der Knoten zu genügen. Mit einer modellierenden Handbewegung drückte er ihn in Form. Dann presste er mit einer leichten Handbewegung die weichen, weißen Haarwellen an den Schläfen nieder.
»Geben Sie mir bitte die schweinsledernen Handschuhe und das ›Eau de Toilette‹«, sagte er dabei mit leiser, angenehmer Stimme.
James half dem alten Herrn in Weste und Cutaway. Nachdem er die gewünschten Handschuhe auf den Toilettentisch gelegt hatte, griff er nach einer neuen Flasche Duftwasser von ›Roger & Gallett‹.
»Aber doch keine neue Flasche, James!«, bemerkte der Professor ermahnend. »Geben Sie mir die von gestern, bitte!«
»Die ist leer, Herr Professor!«, entgegnete der Diener und hielt die neue Flasche unentschlossen in der Hand.
Professor van den Broek schloss den letzten Westenknopf und entfaltete das auf dem Toilettentisch bereitgelegte Taschentuch. Ungläubig verwundert sah er seinen Diener an.
»Aber Sie haben die Flasche doch erst gestern geöffnet, James, oder irre mich?«
Der Diener machte ein gekränktes Gesicht.
»Herr Professor werden doch damit nicht andeuten wollen, dass ich …«, antwortete er würdevoll.
»Ich wollte Sie nicht kränken, James. Durchaus nicht.«
James öffnete die Flasche und reichte sie dem Professor. Van den Broek träufelte ein paar Tropfen des ›Eau de Toilette‹ auf das Taschentuch und befeuchtete sich mit ein paar weiteren Tropfen das Innere seiner Handflächen.
Der Diener sah ihm dabei zu, nahm ihm die Flasche ab und machte diskrete Anstalten zu Sprechen. Kaum merklich räusperte er sich und hielt zögernd inne.
»Nun?« Der alte Herr blickte den Diener ermunternd an, während er die befeuchteten Handflächen langsam gegeneinander rieb. »Sie wollten etwas sagen?«
»Herr Professor«, der Diener machte eine leichte Verbeugung, »Sie werden mir verzeihen, wenn ich mir eine Bemerkung erlaube …, aber dieses ›Eau de Toilette‹ …, Mister Sullivan war heute morgen …«
Professor van den Broek lächelte ungläubig.
»Sullivan? … Nein … Der würde niemals …«
»Verzeihen Sie, Herr Professor. Ich habe erst seit kurzer Zeit die Ehre, in Ihren Diensten zu stehen, und es ist unter diesen Umständen vielleicht besser …«
Der alte Herr wurde ungeduldig.
»Jetzt belassen Sie es nicht bei vagen Andeutungen! Ich schätze es, wenn man offen und ehrlich zu mir spricht. Ich engagierte Sie, weil mir Ihr freimütiges Gesicht gefiel, James … nur deshalb. Also! Wenn Sie mir also etwas zu sagen haben, dann frei heraus damit.«
James legte seine glatt rasierten Wangen in korrekte Falten und machte eine neuerliche Verbeugung.
»Ich danke Ihnen, Herr Professor! … Herr Professor, ich war lange in Schottland als Kammerdiener tätig, ehe ich nach London kam … Und bei uns in Schottland habe ich es nie erlebt, dass sich ein Angestellter erlaubt hätte, das ›Eau de Toilette‹ der Herrschaften zu benutzen, den Whisky der Herrschaft zu trinken, oder gar die Zigarren des Herrn zu rauchen …«
»Dann leben in Schottland also lauter Engel!«, schmunzelte der alte Herr. »Und Sie wollen damit sagen, dass Sullivan dem nicht entspricht.«
»Genau das wollte ich damit zum Ausdruck, Herr Professor!«
Van den Broek nahm die Handschuhe auf und lachte herzlich.
»Ja, Sullivan ist eben ein Feinschmecker, James. Aber wir wollen ihm deswegen aber nicht böse sein.«
James konnte seine Entrüstung nicht verbergen. Er hatte ja schon so einiges bemerkt, und hätte gern so viel mehr gesagt, aber die gute Laune des Professors schien ihm nicht der richtige Augenblick.
»Mister Sullivan ist nicht ehrlich, Herr Professor!«, bemerkte er deshalb abschließend.
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