Ernsthaft und sie achtete kaum auf seine Küsse, erklärte sie ihm, sie habe seit Längerem von dem Sohn geträumt, der ihnen geboren würde. Der ihr verraten habe, wie er heißen wolle. Kein Name von hier. – Ach so? fragte er beiläufig. In der Stunde der Geburt werde sie ihm das noch Verschleierte, zu Zeiten sehr Nahe und doch nur dem Wesen nach Vertraute aufdecken. - Unser Sohn, sagte sie, wird nicht umhin können, sich über einzelne deiner Charakterzüge Klarheit zu verschaffen. Er wird ihnen auf den Grund gehen. Nein, sie wolle und dürfe nichts vorwegnehmen. Damit alles seine Ordnung fände. Ein bisschen abergläubisch, gab sie zu, das Geheimnis zu hüten wie einen heimlichen Triumph, eine stillschweigende Verabredung, Bannspruch, Inhalt heftiger Gebete. Sie dürfe keine Futtereimer mehr schleppen. Manches würde sich ändern. Und außerdem, hatte er denn nicht versprochen, sie vom Hof zu nehmen, in die kleine Stadt, in der er selbst geboren war, sollte es so weit kommen? Am Ende, wer weiß, und sie schmiegte sich in seine Arme, werde ein Irrtum, eine Fehlgeburt sie bestrafen für so viel Eitelkeit. Natürlich könne sie ohne den Hof gar nicht sein, aber der Sohn, sie fühle es, wolle wie sein Vater anderswohin.
Selbst nach wie vor kein regelmäßiger Kirchgänger, war er anderntags, in aller Morgenfrühe, zum Gartlberg hinauf gestiegen. Im Angesicht des farbenfrohen Auferstehungsbildes, das, von Stuck gerahmt, den Altar schmückte, sprach er ein stummes Gebet. Sollte er versäumt haben, sich zu schicklicher Zeit von ihr zu lösen, Gott befohlen, und es war zu spät, lasst uns einen Sohn, aber ja, wer wollte nicht einen Sohn, danach aber die Geburt eines kleinen Mädchens feiern. Lasst dieses mein Herzblut von jenem fantasievollen Naturell sein, das ich an mir so gut kenne, nicht ohne Leidenschaft, verletzlich, den Versuchungen, deren sich das Leben bedient, um sich zu verschwenden, nicht abgewandt, weil nur in ihnen Willkür und Glanz aufscheinen. Er werde auf sein Mädchen achten. Es beschützen. Er versprach, den Sohn, der sich bereits ankündigte, nach Kräften zu fördern.
Die Braut wurde in eine eigens für sie entworfene Robe gehüllt, Brokat, mit Spitzenblüten bedeckt. Der Myrtenkranz lag bereit, da ließ sie sich das Telefon reichen, um dem Liebsten mit einem Geständnis aufzuwarten. Voller Fluchtgedanken, doch Flucht würde es in seinem Leben nicht mehr geben, nahm er den Hörer auf. Sie habe (ihre so angenehme, lachende, in diesem Moment so verletzliche Stimme) bis zuletzt mit sich gehadert, was sie ihm antäte. Mit sich. In ihrer Person. Gezittert habe sie, er könnte ebenso spontan aus ihrem Leben verschwinden, wie er vor einem Jahr da hineingeraten sei. Dass sie ihn hätte fortschicken müssen, als Zeit war. Sie hätte nicht vergessen. Aber das wisse er ja. Sie zögerte. Um eine letzte Brücke bat sie, er begriff sehr wohl. Er tat ihr auch diesen Gefallen. Wann wäre er ihr nicht zu Gefallen gewesen? Sie wisse doch sehr gut, wie angetan er sei, selbst von ihrer Unbeirrbarkeit, die ihm selbst so fern läge, und wollte man ein solches Maß an Selbstbehauptung, an Rückgrat, Unwandelbarkeit, wie es ihr gegeben sei, auch gelegentlich als Grenzüberschreitung erfahren, seine Hände berührten, wenn er sie berühre, immer noch Glückseligkeit. - Liebster, sagte sie, wir wollen keine Angst haben. Was uns das Schicksal auch abverlangt, es wird unserer Bestimmung folgen.
Ein von Licht durchfluteter Sommertag unter dem Himmel Bayerns, als sich der Hochzeitszug von der Kirche – ein Dorf feierte mit ihnen - den Hang abwärts zum Fototermin und entlang des Mauerberings der Altstadt durch das Spalier applaudierender Passanten bewegte, vom Klang scheppernder Dosen und einer hupenden Wagenkolonne begleitet, zu jenem Hotel, das Festlichkeiten die geeigneten Räume bot. Der Bräutigam, ganz in Weiß wie die Braut, der im Cabriolet stehend den Zuschauern winkte, zog die Frau, die er nie mehr verlassen würde, vom Rücksitz neben sich. In eben diesem Moment fielen aus einem fedrig weißen Wölkchen ein paar Tropfen auf Schleier und Brautstrauß. Ihr klopfte das Herz, so sollte es sein, dass auch die Erde den Bund segnete.
Eine wetterbedingte Ausnahmeerscheinung, die sich gut ein Vierteljahrhundert später in einem der trockensten Gebiete der Erde, in den eisenoxydfarbenen Dünen Namibias wiederholen sollte, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ein Mann mittleren Alters, dem das Schicksal nach einer Erkrankung im Kindesalter Fruchtbarkeit versagte, hatte sich so sehr nach seiner jungen Frau gesehnt – Tausende Kilometer trennten sie - dass er für sie eine erotische Episode, eine heimliche Verführung ersann. Er hatte sich nie von dem Verdacht befreien können, dass sie, um das Leben in seiner Fülle anzunehmen, der Versuchungen bedurfte. Dass sie ohne spielerische Anfechtungen sich selbst und dem Lebenspfad entglitt, dem einzig für sie gangbaren. Er hatte sich in eine Eifersucht hineingesteigert, die ihm erlaubte, sich ihr als Unbekannter zu nähern, dunkle Variante seiner selbst, um sie auszuspionieren. Um den Schleier anzuheben, der sie ihm, bei aller Leidenschaft der Nächte, entzog. Eine tiefviolette Wolke zog über dem weiten Horizont der Wüste herauf, während sich, nicht weit entfernt in einer kleinen Ansiedlung ein Hochzeitszug formierte, und entlud sich in einem Schauer, der kaum Sekunden währte. Die Novemberhitze sorgte dafür, dass die Spuren augenblicklich im Sand versickerten. Namib, das bedeutet einen Ort, wo nichts ist, nichts sein kann, seit achtzig Millionen Jahren Dünen, Fels und Geröll. Die sehr frühe Erdkruste wird in den Tälern unterhalb der Randberge sichtbar.
An jenem lichtvollen Tag aber in einem Landstädtchen Südost-Bayerns, umgeben von bewaldeten Anhöhen, duftenden Wiesen und das Himmelsblau spiegelnden Flussauen, warf die eben Gertraute voll Übermut den Schleier dem nächststehenden jungen Mädchen zu. Ein Knabe und, mit fünf Jahren Abstand, ein Mädchen wurden ihnen geboren: Jason (der Sohn, von dem die junge Mutter geträumt, dessen Namen sie dem Traum entnommen hatte, Jason, der das goldene Vlies raubt und heimholt) und Carlo – eigentlich Henrietta nach der Ahnin, der die Mutter die Goldhaube verdankte. Der Vater machte das nicht mit. Soviel Vorauscharakterisierung sei diesem Fliegengewicht auf der Waage nicht zuzumuten. Ihre Leute würden sie Henny nennen oder Etta, sollte sie sich als kess erweisen (er glaubte nicht daran). Dieses Kind, dachte er und es tat ihm weh und befriedigte ihn gleichermaßen, bedeutet ihr nicht wirklich etwas. Sie hat es geboren um meinetwillen. Auf dass der Segen sich erfülle. So fand der Doppelname Carlo Henrietta Eingang in das Geburtenregister und so wurde sie getauft.
Der Hof mit den Tieren, die Stadtwohnung, die Kinder wurden herumgereicht, während ihr Erzeuger im Institut oder auf Tagungen, oft genug jedenfalls auswärts tätig war. Es gab in dieser Familie Geborgenheit, aber keine Regelmäßigkeit, abgesehen vom Schulbesuch, Kirchgängen, den Grundfesten der Erziehung. Die Dörfler, die sich nach wie vor einstellten, den Korb voller Früchte der Saison, sparten nicht mit Kritik. Weil nämlich, sobald der Sohn über die erste Phase der Pubertät hinweg war, die fantasiebegabten Sprösslinge an den Wochenenden unbeaufsichtigt blieben. Um seine Frau ihren Pflichten, noch mehr dem Theaterspleen zu entziehen, lud der Gatte sie zu einer Spritztour nach Salzburg und ins Gebirge ein und dann blieben sie auch über Nacht aus.
Fast wurde es zur Gewohnheit, dass in Abwesenheit der Eltern Valentin vorbeischaute. Valentin, dem das Lernen wie von selber zufiel, problemloser jedenfalls als Jason, der besonders einer Nachhilfe in Latein bedurfte. Als Gymnasiast bereits ein Nachdenklicher, war der hagere Valentin mit dem wehenden, schulterlangen Haar willkommen, wo immer er auftauchte. Valentin, der zu aller Erstaunen auf eine Karriere verzichtete, im Gegensatz zu Jason, der ohne ein Jura-Studium nicht durch die Mühsal politischer und wer weiß denn welcher Wirren – das Leben rechnet sich nach Jahrzehnten – zu gelangen glaubte. Jura, erklärte er und mit einem Motorboot über den See, den Waginger oder den Ammersee. Sportboot-Führerschein. - Du wirst dich langweilen, prophezeite er dem Freund, der in einem vernachlässigten Gebäude mit Jugendstilfassade ein Musik-Café eröffnete. In dem auch Ausstellungen gehängt wurden, wo man sich zu Comedy und Affront zusammenfand. Valentin, den jeder kannte, um dessentwillen man den Schritt verhielt, um sich mit dem neuesten Dorfklatsch zu versorgen. Das Klima ist angenehm, die Landschaft öffnet sich dem Auge von Hügel zu Hügel, über dessen Grat eine Kirchturmspitze von weiteren Ansiedlungen kündet. Die Münchner kommen heraus, um Golf zu spielen und sich in den Thermalbädern zu erfrischen. Es gibt ein paar ausgezeichnete Hotels und Restaurants, Zu Valentin gelangten die Angereisten eher selten. Ein Städtchen an den Ufern des Inns. Abgeblättert die Türfarbe. Bei ihm wurde auch mal ein Kaffee umsonst kredenzt, er bot Unterschlupf in einem Hinterzimmer, sollte man über das Debattieren nur noch eines wünschen, sich schlafen zu legen, wo man ging und stand. Man hielt ihn für schwul oder bi orientiert, unklar diese Seite seiner selbst, jedenfalls keine Rede davon, dass er etwa Kindern nachstellte. - Er erfährt sich selbst durch das Schicksal anderer, hätte Gildas gesagt. Ihn kannte er noch nicht.
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