Sein Besucher schwieg.
- Die Frequenz des Felsens - jene Steinansammlung auf der Anhöhe, mit der Ihre Gefährtin vertraut ist - hat sie Ihnen verraten, dass sich der Fels ihr zuweilen mitteilt? Vielleicht spricht sie Ihnen gegenüber von Naturgeistern, an die sie glaubt oder nicht, aber eigentlich hat sie Ihre Theorie von der rhythmischen Energetik in der Hyperfeinstruktur wohl in sich bewahrt. Ihr geht es allerdings nicht um die Hyperfeinstruktur, sondern um ein Zartgefühl, sie nimmt, was da ist oder nicht ist, als Impuls wahr, der ihrem Herannahen liebevoll geöffnet ist. Sobald sie ihm nachgeben will, wird der Eindruck unklar, verschwindet. Ich würde von Systemen sprechen, die den Zeitfluss anders interpretieren, viel mehr Ereignisdichte darin konzentrieren.
- Wer weiß! Das Beichtgeheimnis?
- Ansonsten?
- Ich darf mal etwas ausholen. Der Trunk, den Sie uns kredenzt haben, befördert das Gedächtnis. Der andalusische Philosoph und Mystiker Ibn al ´Arabi im dreizehnten Jahrhundert, eine geistig fruchtbare Periode, soll sich in eine schöne, gebildete Perserin verliebt haben. Persien, das hat Klang, nicht wahr? Im Norden Teherans sah ich gemalte Rosen eine Außentreppe von der Straße hinauf zu einem Häuserensemble zieren. Der Aufgang bedient sieben Geschosse. Sieben Bilder oder Schönheiten, dieses Symbol liegt auch Nizamis Epos Haft Paykar zugrunde. Die Rosenblüte in ihrem Aufbau hält dem Einbruch lange stand.
- Welchen Vers haben Sie im Sinn, die Philosophie betreffend?
- Mit jener von Ibn al’ Arabi verehrten Frau – nicht seine einzige Lehrerin - hat er den Gedanken der sehnsüchtigen Gottesnamen entwickelt, die sich, in den Tiefen des göttlichen Wesens noch nicht aktualisiert, nach Manifestation sehnen. Diese Metapher trifft ziemlich genau den Kern der wissenschaftlichen Herangehensweise. Heute! Wir haben die Idee des Urknalls formuliert und die damit einhergehenden Phänomene, die Zeit und Raum in zunächst verschlungener Weise in Gang setzten. Als das Nichtsein in die Existenz tanzte, wie Rumi es ausdrückt. Der Intellekt unserer Epoche untersucht hoch komplexe, vielschichtig vernetzte Verbindungen, die in mehreren - zunächst sehr kurzlebigen - Phasenübergängen jenen Triumph herbeiführten.
- Das Herz der Dinge, Sie sagen es. Einerseits möchten Sie diese Frau nicht aufgeben. Andererseits Ihre Unabhängigkeit bewahren. Ein Dorf nimmt an dem Zwiespalt Anteil. Ihre Geliebte verteidigt eine Romanze. Was kann sie tun? Gehen Sie fort von hier, junger Mann oder erfüllen Sie ihr den unerhörten Traum, der in ihr bohrt. Einmal möchte sie Herkunft und Tradition, so sehr sie von ihnen geprägt ist, aufs Spiel zu setzen, um teilzuhaben an Ihren, ja Leichtfertigkeiten, dem intellektuellen Begehren, freilich nicht ohne den kirchlichen Segen. Ganz ohne Halt also nicht. Könnten Sie sich vorstellen, in einem gewissen Ausmaß ihr Leben auf dem Land zu teilen? Wo es immer reichlich zu tun gibt, die Sorgen existenzieller Art sind? So dass ein Gebet nicht abwegig erscheint, letztlich als Bedürfnis, die Last nicht allein zu tragen.
Die Replik kam nicht ohne Feuer.
– Der Hof? ich gesteh es ein, ich verliere die Geduld. Ich möchte dorthin, wo geschmeidig gedacht, um Nuancen spekuliert wird, wo Ideen wandelbar sind. Sicher, wird ein Kälbchen geboren, wen berührte das nicht. Ihre Aufregung, ihre Ruhe, ich muss dann bei ihr sein. Gerade so lange, bis das neue Leben ins Heu gebettet vom Muttertier versorgt wird. Und keinen Wimpernschlag länger.
- Jene kurze ungeordnete Position, in der wir alles ergreifen und alles verschmähen können. Glauben Sie mir, Gott hat Teil an unseren Gefühlsstimmungen und zerbrochenen Gelegenheiten! Man möchte behaupten, in dieser Hinsicht überlagert das materielle Universum eine Ausdehnung der Inspiration oder ein Bewusstsein, in dem es seinen Ursprung hat. Wenn Sie schon, zu Ihrer Rechtfertigung? die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts in Persien heranziehen, Djalaluddin Rumi sagte es so, freier Wille sei die Bemühung, Gott für seine Wohltat zu danken.
- Wissen Sie, dass ich diese Frau liebe? Obwohl sie mich um den Verstand bringt! Sie repräsentiert bereits jetzt, in ihren mittleren Zwanzigern, alles, was sie jemals sein könnte. Ich würde ihr das gerne austreiben, aber so ist sie. Das Quantenvakuum – sprachen wir davon? – schier unendlich dimensioniert und angefüllt mit virtuellen Teilchen, die auf Existenz warten, um im Netzwerk der Wechselbeziehungen Präsenz zu gewinnen, wer wollte behaupten, dass dem Vorgang Bewusstsein abgeht? Bewusstsein inszeniert sich vielfältig. Der Verstand bezieht sich auf einen Bruchteil, eine Nuance. Die virtuellen Teilchen tauchen empor und geben die Bindung auf, um in Strahlung überzugehen. Jeder darüber hinausgehende Aufbruch erweitert das Feld des Möglichen. Die positive Energie der Materie kann, wie man heute weiß, gerade eben durch die negative des allgegenwärtigen Gravitationsfeldes aufgehoben werden. So dass die Gesamtenergie des Universums potentiell bei Null liegt und doch sprühen wir vor Leben. Halten wir uns an die Unschärferelation, wie sie die Quantentheorie nahe legt, könnte – und da sind wir beim ersten Schöpfungstag und ebenso im Jetzt, hier und heute, in dieser Minute – alles eine Quantenfluktuation aus dem Nichts sein. Das Nichts, dieses Meer, wie der Physiker Paul Dirac es genannt hat, oder die Urflut der Legenden. Das Vakuum, scheinbar leer, kommt mit der niedrigsten Energie aus, die ein System aufrechterhält. Das aber lässt auf ein Meer von Nullpunktwellen schließen, geringer als atomare Skalen bis hin zu solchen, die als wahrhaft kosmisch zu bezeichnen sind. Ein Elektron, betritt es das Vakuum, zittert unter der Nullpunktbewegung. Das hat man sichtbar machen können.
- Wenn ich Ihnen zuhöre, teile ich fast Ihre Begeisterung. Es gibt ein Phänomen, das mich persönlich berührt, in der Blasenkammer sichtbar gemacht. Es kann nämlich passieren, dass in dem elektrischen Feld des Atoms ein virtuelles Elektron und sein Gegenpart Realität werden, sofern das Feld von einem Photon, einem Lichtteilchen, getroffen wird. Das Photon kann beide Teilchen aus dem Atom heraus stoßen, ohne das Atom selbst zu verändern. Eine Art Paarerzeugung.
- Und sie bilden zwei gegenläufige Spiralen ab. Energie ist per Voraussetzung schöpferisch, doch nur bestimmte Ordnungsstrukturen scheinen das Gefüge weiter zu bringen. Energie kann positive wie negative Impulse an sich binden, wie wir wissen. In den Einschlüssen von Kristallinen uralter Gesteinsschichten finden sich Spurenelemente, wie sie zur Ausbildung des Gehirns unverzichtbar sind.
- Es heißt, ein minimaler Überschuss von einem ungebundenen Quark auf Millionen Paare von Quarks und Antiquarks, die sich in einer frühen Phase unmittelbar in Strahlung auflösten, hat ausgereicht, um die Voraussetzung für unsere Welt zu konstituieren. Die Leere oder das Nichts, von dem Sie sprachen, ich betrachte sie als geistige Komponente, gewissermaßen Voraussetzung für das erste Aufscheinen von Wahrscheinlichkeiten, Kreativität, Leben zu gebären, das heißt zu einer Ausdrucksform zu gelangen.
- Wir haben einen spannenden Zusammenhang eben berührt.
- Sie sind jung, verabschiedete der Geistliche seinen Gast, gehen Sie, heute noch und Gott mit Ihnen! Sie bringen die junge Frau, vor der ein Leben liegt wie vor Ihnen, in Gewissensnot. Sie haben sich gekannt. Das sollte genügen. Für den Kummer gibt es das Gebet und vielleicht wird sie ihren Gatten umso inniger lieben. Gott ist voller Wunder. Sie sind doch für rasche Entschlüsse zu haben. Wie ich hoffe, ohne Reue.
Das Frühlicht färbte rotgolden die Dächer, er war müde, doch noch in schwarzer Nacht hätte er den Pfad nicht übersehen, der quer durch unebenes Gelände zu der Geliebten führte. Er hob das Nachthemd auf und bedeckte den warmen Leib mit seinen Küssen.
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