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Im Wagen angekommen, setzte er sich neben den Truppenführer, der ihn erkannt hatte, in den hinteren Bereich des umfunktionierten schwarzen Bestattungswagens.
»In so einem Teil liegen doch eigentlich die Leichen der Verstorbenen«, dachte sich Charly. So war es zumindest in seiner Kindheit. Daran konnte er sich noch erinnern.
Er sah wie ein großer schlaksiger Mann mit einem langen Zopf auf ihn zukam. Der Mann war größer als die anderen Polizisten und nur ein wenig kleiner als Charly. Er trug eine weiße Uniform aber keinen Helm. Der Truppenführer zog Charly aus dem Wagen und ging mit ihm auf den Mann zu. Die beiden und der ältere Polizist, der Charlys Markierung entdeckt hatte, salutierten vor dem Mann, indem sie ihm die Mittelfinger zur Begrüßung entgegenstreckten. Charlys ahmte diese Bewegung unbewusst nach, als ob er sie bereits kannte und schon mehrmals ausgeführt hatte. Sie standen stramm vor dem Mann, der relativ teilnahmslos und locker wirkte, so als ob ihm die Situation nichts anging.
»Captain Epi, Sehen Sie wen wir gefunden haben!«
Der Captain inspizierte Charly mit seinen grünen, leicht schlitzförmigen Augen und zündete sich währenddessen eine Zigarette an. Die Haare des circa 40 Jahre alten Captains waren rotbraun und seine Haut war braungebrannt. Er hatte spitze Ohren, wobei sein rechtes mit tiefen Narben übersät und das Ohrläppchen komplett abgerissen war.
»Da bist du ja endlich! Wir haben alle nach dir gesucht! Wir hätten nicht gedacht, dass du so weit kommen würdest! Nicht schlecht für einen 59 Jahre alten Mann. Steig ein!«, sagte der Captain mit einem Grinsen. Charly spürte indes, dass er langsam ohnmächtig werden würde und stieg wieder in den hinteren Bereich des Wagens. Er bemerkte noch, wie der Captain eine gelbe Sirene auf dem Dach des Wagens befestigt und sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte.
Der Captain und der ältere Polizist, der sich als Fahrer herausstellte, saßen vorne. Der Truppenführer setzte sich in den hinteren Bereich des Wagens, wo Charly sich bereits erschöpft hingelegt hatte.
»Ich bin müde und muss etwas schlafen. Darf ich die Augen schließen und mich ausruhen?«, fragte Charly den jungen Mann ängstlich und legte sich hin.
»Wenn Sie gleich wieder aufwachen und alleine aufstehen können, ist das kein Problem. Ich werde Ihnen dann aber nicht helfen können«, sagte der Truppenführer. Der Captain drehte sich nach hinten und schaute die beiden an.
»Du Idiot! Er ist Arzt. Und im Moment sogar unser einziger, seitdem Hitler tot ist. Wir brauchen ihn. Klar hilfst du ihm! Oder willst du, dass wir bald ohne Arzt dastehen?«
Charly nahm die Worte des Captains nicht mehr war. Er war bereits eingeschlafen.
C
Nach 30 Minuten wurde Charly durch mehrere laute Rufe und Schreie aus seinem Schlaf gerissen. Er hatte immer noch starke Kopfschmerzen, wobei der brennende Schmerz am Rücken nachgelassen hatte. Er versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Durch den beißenden Benzingeruch und den modrigen Gestank der Sitzpolster registrierte er, dass er sich immer noch im hinteren Bereich des Polizeiwagens befand. Er versuchte, neben sich zu blicken, doch er wurde durch das grelle Licht der Sonne so stark geblendet, sodass er mehrmals krampfhaft blinzelte. Erst danach registrierte er, dass der Truppenführer verschwunden war. Die hintere Tür des Bestattungswagens war weit aufgerissen.
Charly hörte wie zwei Männer sich draußen lauthals anbrüllten. Mühevoll kletterte er aus dem Wagen und trat dabei mit seinen weißen, löchrigen Turnschuhen auf einen Gegenstand auf dem Boden, der dabei zerbrach. Es handelte sich um die gelbe Sirene vom Dach des Wagens, die in mehrere Glassplitter zerschellt war. Die Splitter hatten sich aber, wie durch ein Wunder, nicht in sein Fleisch gebohrt.
Draußen angekommen, sah er was passiert war. Der Polizeiwagen war mit einem Baum kollidiert und die Motorhaube wurde dabei stark eingedrückt. Die Tür der Beifahrerseite war durch mehrere dicke Äste, an denen Blut klebte, durchbohrt. Charly blickte auf einen besonderen Strauch des kleinen Laubwaldes, der direkt an den Baum gewachsen war, mit dem der Wagen kollidiert war. Dort sah er einen Strauch mit rot-orangenen Rosen, die mit spitzen schwarzen Stacheln bestückt waren. Daneben befand sich ein Erdbeerstrauch. Charly erinnerte sich an die helle, rötliche Farbe und als er den frischen Erdbeerduft der angrenzenden Erdbeersträucher roch, verspürte ein warmes Kribbeln in seinem Bauch, das ihn an schöne Tage während seiner Kindheit erinnerte.
Als er gerade eine Erdbeere pflücken und diese vernaschen wollte, hörte er einen lauten Schrei. Charly ließ die Erdbeere auf den Boden fallen und ging einige Schritte um den Baum herum.
Der Captain und der junge Truppenführer befanden sich unweit des Baumes. Sie schrien sich bedrohlich und wild gestikulierend an. Der Captain kniete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden, während der junge Polizist neben ihm stand und ihn permanent anschrie.
»Dass er das Bewusstsein verloren hat, war alleine Ihre schuld! Nur wegen Ihnen sind wir letztendlich von der Straße abgekommen und in dieser verdammten Lichtung gelandet. Um Sie zu schützen, hat er sich dazwischengeworfen und wurde mit dem verschmutzten Messer des Rebellen von letzter Woche verletzt. Sie wussten, dass seine Wunde sich immer mehr infiziert hatte. Deshalb ist er ohnmächtig geworden. Und jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen helfe?! Er war mein Onkel und es ist Ihre Schuld, dass er tot ist. Und es ist nur gerecht, wenn Sie jetzt auch verbluten!«
Im Hintergrund waren die Rufe von Krähen zu hören, die das Szenario von den Baumwipfeln aus beobachteten. Charly blickte auf eine klaffende Fleischwunde am Bauch des Captains und begab sich zur Fahrertür des Wagens, ohne dass die beiden Männer ihn wahrnahmen. Der Fahrer saß leblos auf seinem Sitz. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine Hände umschlungen das Lenkrad. Er trug keine Handschuhe. An der Außenfläche der rechten Hand des Mannes bemerkte Charly eine große eitrige Wunde. Charly begab sich zurück zu den anderen beiden Männern und sah, wie sich der junge Polizist von dem Captain abgewandt hatte und auf Charly zuging.
»Schön! Sie leben! Wir müssen noch warten bis Captain Epi tot ist und dann werde ich Verstärkung holen«, sagte der junge Truppenführer aufgebracht und leicht hysterisch, während er mit seinen Fingern mehrmals nervös auf ein kleines Funkgerät tippte, das er in seiner linken Hand trug.
»Wieso verbinden wir nicht seine Wunde?«, fragte Charly.
Der Polizist schaute ihn verwundert an.
»Hat man es Ihnen immer noch nicht erklärt? Das ist das Gesetz!«
»Aber er ist doch ein Captain?!«
»Ja, aber er ist nicht würdig! Nur Personen, die würdig sind, dürfen behandelt werden. Nur Menschen mit einem roten Dauf ihrer Brust, so wie ich, sind wirklich würdig«, sagte der junge Mann. Er legte das Funkgerät auf den Boden, zog sich die weiße Lederjacke und das sich darunter befindende weiße Hemd aus. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Markierung auf seiner freigewordenen Brust.
»Wofür steht das D?«, fragte Charly.
»Es stammt, wenn ich mich nicht irre, von dem Wort „dignus“, welches ein altes antikes griechisches Wort ist. Es bedeutet „würdig“«, sagte der Polizist mit fester Überzeugung.
»Und Epi ist nur ein einfacher verkrüppelter, geisteskranker Captain. Mehr nicht. Er ist unwürdig, behandelt zu werden!«
Charly schaute sich Captain Epi genauer an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Epi unter seiner Uniform keinen rechten Arm mehr hatte. In der Hektik hatte Charly darauf nicht geachtet.
»Und was ist mit mir? Bin ich auch unwürdig?«
»Schauen Sie doch auf ihre Markierung! Sie sind würdig. Zumindest nach der neuesten Gesetzesänderung von gestern, wie Captain Epi mir gerade berichtet hat. Ob Sie auch vorgestern schon würdig waren, das weiß ich beim besten Willen nicht. Dafür ändert der Präsident zu oft die Gesetze.«
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