Als Epi sich ohne großes Zögern entfernt hatte, betrat Charly die Praxis und schaute sich in aller Ruhe um. Er konnte sich nicht erinnern jemals in dem leicht nach Desinfektionsmittel riechendem Komplex mit dem steril mintgrünen PVC Boden im Eingangsbereich gewesen zu sein.
Charly fühlte sich wie ein Kind in einem Museum und schaute sich Schritt für Schritt näher um. Die Praxis bestand aus einem Operationssaal, einem Büro, in dem sich ein Medizinschrank befand und einem großen Labor. Am Ende des Labors führte eine Tür nach rechts ab. Auf ihr stand in Großbuchstaben das Wort „PRIVAT“ geschrieben. Charly blickte auf die Klinke und drückte sie nach langem Warten hinunter. Danach ließ er wieder von ihr ab und starrte auf die Türe. Er war sich nicht sicher, ob er Details über seine Vergangenheit wissen wollte und den nächsten Schritt wagen sollte. Er drückte die Klinke erneut nach unten und blieb stehen. Nach mehreren Minuten zog er die Tür weiter auf und durchschritt sie.
Das Gemach, das angeblich seine Wohnung war, umfasste drei Zimmer und ein Bad. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet. Zuerst betrat Charly ein Zimmer, in dem ein Doppelbett stand. Nur eine Seite des Bettes war bezogen und auf dem Nachttisch befand sich ein Bild. Charly trat näher heran. Auf dem Bild waren ein bärtiger Mann mit krausem roten Haar, eine Frau mit glatten, langen, brünetten Haaren und ein kleiner Junge zu sehen. Charly entdeckte ein Muttermal auf der linken Wange des Kindes.
»Da ist doch das Muttermal von dem Mann am Kreuz! Er ist es!«, dachte sich Charly.
Alle drei Personen lachten und wirkten glücklich und gelöst. Als Charly einen vertrauten Geruch wahrnahm, verließ er leicht panisch das Zimmer und stürmte nach Luft ringend nach draußen. Er ging zurück und erkannte in einer Ecke des Zimmers einige immer noch blühende Rosen, die er bereits im Wald gesehen hatte. Sie hatten einen angenehmen Duft. Während die anderen Blumen, wie eine alte Erdbeerpflanze, in dem Raum schon verwelkt waren, schienen diese Rosen ohne viel Wasser auszukommen und kaum etwas von ihrer Strahlkraft verloren zu haben. Er ging in die Küche, füllte eine Schüssel mit Wasser und goss die Rosen.
Charly begab sich anschließend in das nächste Zimmer. Auf einer Kreidetafel links neben dem Zimmer standen die beiden Wörter „Kinderzimmer“ und „Judas“. Als Charly den Raum betrat fand er ein karges Zimmer, in dem alte Pappkartons lagerten, vor. Charly durchstöberte wild die Kartons. In ihnen befanden sich dutzende Krankenakten von zahllosen Patientenamen, die ihm nichts sagten. Schleunigst schob er die Kartons hin und her, durchwühlte sie und warf sie auf den Boden. Er suchte nach weiteren Fotos von Judas, um etwas zu finden, was ihn dabei helfen könnte, die Erinnerungen zurückzuerlangen. Am Fuße eines Kartonbodens fand er ein zweites Bild. Auf ihm war derselbe Junge zu sehen, wie auf dem Bild davor. Auf diesem Foto schien der Junge ein wenig älter zu sein. Sein Blick wirkte trüb und er lächelte nicht.
Als nächstes Zimmer betrat Charly das Bad. Als er in den Spiegel des Hängeschranks blickte, realisierte er, dass er der Mann auf dem Foto war. Seine Haare waren nun weiß, aber das markante Gesicht mit der großen Nase und die krausen fülligen Haare waren unverwechselbar. Charly sah nun deutlich älter als auf dem Foto, welches mindestens 15 Jahre alt war. Seine Falten bohrten sich nun wie gewaltige Fugen durch seine Stirn. Er fixierte lange sein Spiegelbild und blickte in seine ozeanblauen Augen, die als einzige Teile seines Körpers nicht alt, sondern lebendig wirkten. Er versuchte der Situation etwas Gutes abzugewinnen und lächelte mit offenem Mund sein Spiegelbild an, wobei seine schwarzen, leicht verfaulten Eckzähne zum Vorschein kamen. Charly packte sich an einen dieser Zähne, der nur noch von wenig Zahnfleisch umgeben war und mühelos in alle Richtungen zu verschieben war. Dennoch fiel der Zahn nicht ab.
Danach beobachtete er im Spiegel des Badezimmers seinen Rücken, der nur leichte Verbrennungen vorzuweisen hatte. Ebenso inspizierte er seine stark mitgenommenen Fingerkuppen. Charly ging in die Praxis und suchte nach Medikamenten und Salben, um seine Wunden zu behandeln. Doch die Schränke waren verschlossen. Er kehrte in seine Wohnung zurück und begann sich in der Nasszelle seines Badezimmers zu duschen. Er beobachtete lange die ganze Ansammlung von Dreck und Blut, die sich auf dem Boden staute und nur langsam strudelförmig durch den Abfluss verschwand. Danach trat Charly aus der Dusche, begab sich zum Spiegel und begann seinen großen, voluminösen roten Rauschebart zunächst mit einer Schere zu stutzen und die letzten Stoppeln mit einer kleinen, schon mehrfach benutzten, Rasierklinge minutenlang abzutrennen. Als er fertig war, kamen viele kleine Narben auf Kinnhöhe und oberhalb der Lippe zum Vorschein. Seine Haut wirkte noch älter als vorhin und Charly betrachtete mit Tränen in den Augen das Spiegelbild des Mannes, an dessen Vergangenheit er sich nicht erinnern konnte und der ihm so fremd erschien.
Er ging zurück in das Zimmer mit dem Doppelbett und schaute sich erneut das Foto an. Auf dem Bild hatte er noch keine einzige Falte. An die Frau neben ihm konnte er sich nicht erinnern. Charly lag sich erschöpft in das Bett. Während er mühevoll versuchte, die Augen offen zu halten, betrachtete er das Bild, welches er in seinen Händen hielt. Danach blickte er auf die sterile, unberührte Bettwäsche auf der Seite neben ihn und schlief ein.
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