Charly blickte auf Judas, der das ganze Gespräch mitbekommen hatte und entsetzt auf seinen Vater schaute. Er wollte etwas sagen, doch er war zu schwach. Stattdessen hustete er die ganze Zeit. Charly, der nicht einmal genau wusste, ob der Mann am Kreuz wirklich sein Sohn war, brach erneut zu Boden und weinte.
»Er muss noch einen Tag durchhalten. Nach vier Tagen enden die Qualen am Kreuz. Aber wenn du denkst er stirbt sowieso, dann habe ich etwas für dich, um seine Qualen zu beenden.«
Epi streckte Charly seinen Revolver entgegen. Charly nahm ihn zögernd an und blickte kurz auf Judas, der bereits wieder eingeschlafen war.
»Ich genieße gerade deinen Blick, alter Mann. Ich weiß, du würdest die Waffe nun allzu gerne gegen mich richten und abdrücken. Aber es würde dir nichts nützen.«
Charly sah sich den langen Lauf des Revolvers genauestens an. Er gab die Waffe an Epi zurück und lächelte den Mann am Kreuz an.
»Es ist egal, ob du wirklich mein Sohn bist oder nicht, aber ich gebe dir hiermit mein Wort, dass du nicht an diesem Kreuz verrecken musst.«
Der junge Mann hatte für einen kleinen Moment seine Augen wieder geöffnet und schaute Charly ungläubig an. Er versuchte zu sprechen. Beim Versuch das nächste Wort auszudrücken hustete er Blut. Er blickte Charly kurz an und spie er erneut einige Bluttropfen herunter. Ein Tropfen landete auf Charlys weißem Haar. Dieser wandte sich zu Epi.
»Erkläre mir die Welt, in der ich mich nun befinde. Warum ist sie so, wie sie ist? Wie funktioniert sie? Wie kann ich ihm morgen helfen?«
»Na gut. Das werde ich tun. Folge mir! Wir gehen in die Bibliothek. Diese enthält auch ein kleines Museum. Vielleicht findest du da deine Antworten.«
Charly schaute ein letztes Mal wehmütig auf Judas, der bereits wieder eingeschlafen war und schwor sich, an diese Stelle zurückzukehren.
A
Epi führte Charly wieder nach unten. Über mehrere Fahrstühle gelangten sie auf die unterste Ebene des Schlosses. Charly folgte Epi zu einem kahlen kopfsteingepflasterten Platz, auf dem sich lediglich ein einziges, großes weißes Kreuz befand, welches aber von seinem Umfang alle anderen Kreuze im Schloss übertraf. Epi zeigte mit dem Zeigefinger seiner verbliebenen Hand auf den grünen Schriftzug. Es waren sechs Regeln und Gesetze in nummerierter Reihenfolge, die sehr klein und vom Boden aus kaum lesbar waren, auf die breite horizontale Leiste des Kreuzes graviert. Unter dem Kreuz befand sich ein Blatt in einer Vitrine, auf dem die Gesetze in Handschrift als Großbuchstaben verfasst waren.
»Bevor wir in die Bibliothek gehen will ich dir erst das hier zeigen. Siehst du? Das sind unsere Gesetze. Wer sich nicht an das Gesetz hält, der erleidet dasselbe beschissene Schicksal wie dein Sohn. Ich rate dir gut, dir diese Regeln einzuprägen. Die Gesetze beruhen zum Teil auf den Erkenntnissen des Forschers Charles Darwin, der in der Antike gelebt hat. Nach ihm ist auch unsere Stadt benannt. Einige Gesetze ändern sich leider oft, aber diese sechs Grundsätze sind schon sehr stabil.«
Charly rieb sich seine Augen. Dann las sich leicht angestrengt das erste Gebot durch.
1.DIE EVOLUTION IST UNSER RICHTER. AUF DER GANZEN WELT HERRSCHT DIE SELEKTION DER NATUR. NUR DIE STÄRKSTEN ÜBERLEBEN. DIE NATUR WÄHLT AUS, WER LEBEN DARF UND WER STERBEN MUSS. DIE POLIZEI HANDELT IM DIENSTE DER NATUR UND SORGT FÜR DIE KONSEQUENTE EINHALTUNG DER GESETZE.
Charly versuchte von dem Platz aus den Turm mit Judas‘ Kreuz zu sehen, auf dem er sich noch eben befunden hatte. Doch der Turm wurde von einem anderen Schlossturm verdeckt.
So begann Charly hintereinander die anderen Gesetze zu lesen.
2. WER SICH GEGEN DIE NATÜRLICHE SELEKTION RICHTET UND ANDEREN MENSCHEN HILFT ZU LEBEN, IST AN AIDS ERKRANKT UND WIRD GEKREUZIGT. WER NACH VIER TAGEN NOCH LEBT, DEM WIRD DIE RECHTE HELFERHAND ABGEHACKT. SOLLTE DERJENIGE DANACH OHNE FREMDE HILFE WEITERLEBEN SO IST ES IHM GESTATTET WEITER AUF DER WELT ZU EXISTIEREN. WER AN AIDS ERKRANKT IST, WIRD AUTOMATISCH ZU EINER UNWÜRDIGEN PERSON, DEREN RECHT AUF HILFE VERWELKT!
3. MENSCHEN, DEREN LEBEN ERFOLGREICH DURCH ANDERE GERETTET WURDEN, WERDEN UNVERZÜGLICH UMGEBRACHT UND WIE TOTES FLEISCH BEHANDELT.
4. WÜRDIGE MENSCHEN, MIT DEN BESTEN GENEN SOLLEN DEN WAHREN MENSCHEN IN DER EVOLUTION REPRÄSENTIEREN. NUR WÜRDIGE MENSCHEN DÜRFEN SICH FORTPLANZEN UND BIS ZU VIER KINDER ZEUGEN. ALLE ANDEREN DÜRFEN NICHT MEHR ALS EIN KIND AUF DIE WELT BRINGEN. MENSCHEN, DIE IN DER WÖCHENTLICHEN FERNSEHLOTTERIE EINE NIETE ZIEHEN DÜRFEN SICH ÜBERHAUPT NICHT FORTPFLANZEN. DIE ÄRZTE SORGEN DAFÜR, DASS SICH NICHT ZU VIELE UNWÜRDIGE FORTPFLANZEN.
5. DIE EINZIGEN MENSCHEN, DIE HILFE EMPFANGEN DÜRFEN, SIND WÜRDIGE.
6. ALLE MENSCHEN, DIE DAS 60. LEBENSALTER ÜBERSCHRITTEN HABEN, WERDEN HINGERICHTET, ES SEI DENN SIE GEHÖREN ZU DEM RAT DER OBERSTEN.
»Das sind unsere Gesetze. Wie gesagt: diese sechs sind meistens unantastbar und gelten auf der gesamten Welt. Aber unser Präsident neigt dazu, einige manchmal ein wenig nach seinem Vorteil zu biegen. Aber darauf solltest du selber nicht spekulieren«, sprach Epi.
»Was ist AIDS?«, fragte Charly.
»Es ist die Krankheit, die jemanden überfällt und dazu verleitet anderen Menschen zu helfen, die bestimmt sind, zu sterben. Schwache Menschen sterben und haben auf dieser Welt nichts mehr verloren. Der Ausdruck steht für das Hilfe- Syndrom und stammt von einer Sprache ab, die Englisch genannt wurde, wenn ich mich richtig erinnere. In dieser Sprache bedeutete das Wort „aid“ so viel wie „Hilfe“. Und wer anderen hilft und ihnen das unverdiente Leben schenkt und rettet, leidet demnach unter dem „Hilfe“- oder auch AID-Syndrom. Wir hier nennen es nur AIDS. Die englische Sprache war vor langer Zeit einmal die Verkehrssprache auf der Welt. Vor vielen Jahren wurde in unserem Land, hier in Alt- England diese Sprache noch benutzt. Das hat mir zumindest der Präsident erzählt. Mehr weiß ich darüber nicht. Also tu‘ mir bitte einen Gefallen und stell‘ mir bloß keine Fragen mehr. Wenn du Antworten willst, solltest du die Bibliothek aufsuchen.«
»In Ordnung. Bring mich sofort dahin!«
»Das ist gar nicht so einfach. Nur autorisierte Menschen dürfen dorthin. Der Rat der Obersten mag es nicht, wenn zu viele Fragen gestellt werden und dass jeder dort herumschnüffelt.«
»Hast du eine Ahnung wie ich dafür autorisiert werden könnte?«
»Es ist einfach…“, Epi heilt inne und zog an seiner Zigarette „…einfach schwierig, dorthin zu gelangen. Nicht einmal ich durfte sie jemals betreten. Aber du bist Arzt. Vielleicht warst du schon mal da?«
Charly schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht! Kann gut sein. Aber das nützt mir auch nichts. Wie gelange ich nun in die Bibliothek? Ich muss ihm helfen. Vielleicht finde ich dort medizinische Ratschläge oder andere Tipps.«
»Sie befindet sich neben dem Sitz des Rates der Obersten, direkt innerhalb der Kuppel.«
Charly wusste nicht viel mit dem Rat der Obersten anzufangen. Er konnte sich nicht an den Begriff erinnern und dachte viel eher an den Mann am Kreuz und fragte sich, ob dieser tatsächlich sein Sohn war und warum Epi ihn zu seinem Kreuz geführt hatte. Charly schaute zu Epi und wunderte sich, was dieser im Schilde führte. Epi grinste ihn argwöhnisch an und fasste sich leicht nachdenklich an die Stelle an seinem Bauch, an der er verwundet worden war.
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