»Alleine der Versuch jemanden Unwürdigen zu helfen, wird schwer bestraft. Man wird ans Kreuz genagelt! Überlebt die Person, der man hilft, dann werden beide hingerichtet. Also würde ich es mir zweimal überlegen, jemanden zu helfen.«
Der junge Mann blickte auf den regungslosen Körper eines kleinen Jungen, der nur unweit von Charly entfernt lag. Sein Gesicht war völlig verbrannt. Danach zeigte er auf den Jungen und richtete sich an Charly.
»Siehst du diesen Jungen? Das ist mein Sohn. Kurz bevor du aufgewacht bist, war er noch am Leben. Doch er war zu schwach für diese Welt. Er hat es nicht geschafft. Hätte ich ihm geholfen, könnte ich meine Familie nicht ernähren. Womöglich wäre er eh bald an etwas anderem gestorben. Die Natur hat nicht gewollt, dass er länger auf dieser Welt bleibt. Das ist das Gesetz Darwins. Er war zu schwach.«
»Ich muss nun gehen. Gleich gibt es Abendessen.«
Der Mann atmete tief ein und verließ die Unglücksstelle.
Charly blickte in die Mienen der anderen, die um ihn herumstanden. Bis auf die alte Dame und die Eltern des Mädchens wirkten alle teilnahmslos.
»Es gab schon einmal Interessanteres zu sehen«, sagte eine jüngere Frau, die eine Brille trug und verschmitzt lächelte. Dabei kamen ihre schwarzen Zähne zum Vorschein. Charly schaute sich kurz die anderen Menschen an. Auch sie hatten entweder schwarz-gelbliche Zähne oder diverse Zahnlücken.
»Bis hier alle tot sind, kann es noch Ewigkeiten dauern. Das ist Zeitverschwendung. Und für so was habe ich meine Mittagspause unterbrochen«, beschwerte sich eine Frau. Sie blickte vorwurfsvoll auf Charly und ging fort.
Danach musterte Charly die Männer mit der weißen Uniform und den weißen kugelrunden Helmen, die von den anderen als Polizisten bezeichnet wurden. Ihre Uniformem und ihre Helme hatten sichtbare Rußflecken, die sich mit Blutresten vermengt hatten und einen eigenen dunklen Farbton kreierten. Einige der Männer trugen Flügellanzen in ihren Händen, mit deren Spitzen sie die Köpfe einiger Leichen durchbohrten.
»Du schaffst das! Ich glaube an dich«, flüsterte plötzlich die alte Dame in die Richtung von Charly und lächelte ihn an.
Mit letzter Anstrengung stützte Charly sich vom Boden ab. Langsam stand er auf. Während er in gebückter Haltung stand, fuhr er sich durch seinen Bart, der wie seine langen, krausen und weißen Kopfhaare mit Blut durchtränkt war. Einige seiner Haare am Hinterkopf waren leicht versenkt.
Ein junger Polizist, der eine große Flügellanze mit geschärfter Spitze in der einen, und einen Notizblock mit einer Strichliste in der anderen Hand trug, ging an ihm vorbei und blickte ihn enttäuscht an.
»Schade, jetzt muss ich dich tatsächlich von der Liste streichen. Ich hätte nie gedacht, dass du es noch alleine schaffst. Ich darf nie niemanden aufspießen. Das ist total ungerecht! Voll unfair!«, sagte der junge Mann und ging zu einem der schwarzen Polizeiwagen, der von der Form her wie ein großer Leichenwagen aussah.
Das laute Weinen des Vaters riss Charly aus seinen Gedanken. Der Mann war ohne seine Frau zur Unfallstelle zurückgekehrt. Charly blickte auf das kleine Mädchen von vorhin. Zunächst konnte er sie nicht erkennen. Der schwarze Rauch verdeckte die Sicht. Als die Polizisten den Brand langsam unter Kontrolle gebracht hatten, entdeckte Charly schließlich das kleine Mädchen. Sie bewegte sich nicht mehr. Ihr Kopf hing regungslos nach unten. Charly schaute sich erneut nach dem Vater um, doch dieser war wieder verschwunden.
Charly zog behäbig sein verbranntes, mit Blut durchtränktes und mit Löchern durchsetztes Shirt aus, welches eigentlich einen leicht schwachen, ausgewaschenen Grünton hatte. Die meisten Menschen, außer den Polizisten, trugen grüne Kleidung, wobei der Grünton ein sehr schwacher, verblasster war. Auch Charly trug eine mintgrüne Jeanshose und ein leicht verblichenes grünes Shirt.
Das Blut klebte an seinem Körper, so dass er große Mühe hatte sein Shirt von sich zu streifen. Als er nach langen Sekunden zumindest diesen Kampf für sich entscheiden konnte, versuchte er das restliche Blut von seinem Körper zu wischen. Auf seiner unversehrten, grau behaarten Brust kam langsam ein Buchstabe zum Vorschein. Ein großes, grünes „M“ war dort eintätowiert. Charly entdeckte diese Markierung auf seinem Körper nicht und wurde erst darauf aufmerksam, als ein älterer Polizist sie wahrnahm und ihn darauf ansprach.
»Huch. Was seh‘ ich denn da? Sind Sie etwas unser Arzt, den wir seit gestern suchen?«
Charly schaute den Polizisten verwirrt an.
»Woher haben Sie dieses Zeichen?«, fragte der Polizist erneut und berührte das grüne „M“.
Charly blickte an sich herunter und entdeckte den Buchstaben. Er schwieg und versuchte, sich daran zu erinnern.
»Sprechen Sie kein Deutsch, oder was ist los? Wir sind hier in Alt-England, in dem Land, in dem man Deutsch spricht! Oder sind Sie stumm? Verdammt, ist das heute ein stressiger Tag!«
»Nein. Ich kann sprechen. Ich weiß aber nicht, was es bedeutet. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, sagte Charly ermüdet und griff sich an seinen noch leicht blutenden Hinterkopf.
»Sind Sie denn in der Lage, eigenständig zu laufen und zu leben?«
Charly blickte den Polizisten eine Weile verblüfft an. Danach nickte er zweimal.
»Gut. Dann dürfen wir Sie auch mit ins Schloss nehmen! Ich weiß nicht mehr genau, ob Ärzte auch automatisch würdig sind und man ihnen helfen darf. Ich möchte hier nichts riskieren. Der Rat der Obersten ändert in letzter Zeit so oft die Zusatzgesetze, dass hier kaum noch einer mitkommt. Ich werde das eben mit meinem Truppenführer absprechen. Sie kommen dann mit uns. Das ist der Mann mit dem schwarzen Helm dort hinten. Truppenführer, Captains und der König tragen schwarze Helme. Vermutlich wissen Sie das auch nicht mehr, oder?«, fragte der Mann nun mit einem Lächeln und einen verständnisvollen Ton in seiner Stimme.
Charly schaute den älteren Mann ratlos an, nickte ihm aber erneut zu.
Der Polizist war neben der älteren Dame einer der wenigen Menschen, die wesentlich älter wirkten als 30 Jahre. Charly sah, wie der Polizist zu seinem Truppenführer ging und dass beide über ihn redeten und gestikulierten. Der Truppenführer nahm seinen schwarzen Helm ab. Es handelte sich bei der Person um einen groß gewachsenen, sehr jungen Mann, der nicht älter als 18 Jahre alt war. Von weitem blickte er auf Charlys Brustmarkierung und näherte sich dem alten Mann strammen Marsches. Wie alle Polizisten trug er einen Handschuh und wischte damit das rechtliche Blut von Charlys Brust, um die ganze Markierung zu erkennen. Er musterte Charly gründlich.
»Tatsächlich. Da hast du wohl recht«, sagte er zu seinem Kollegen.
»Woher haben Sie den Dienstgrad?«, fragte der Truppenführer in einem Befehlston.
Charly schaute ihn ratlos an.
»Der Mann hat vermutlich sein Gedächtnis verloren. Das sagen zumindest die Zivilisten, die ich eben befragt habe«, sagte der ältere Polizist.
Charly schaute sich das Gesicht des Truppenführers näher an. Er erkannte nur einen spärlichen Bartwuchs. Sein Gesicht war von starker Akne gezeichnet und seine Stimme erinnerte an die eines Jungen kurz nach dem Stimmbruch.
»Das muss er wohl sein. Ruf‘ im Schloss an und informiere den König und den Präsidenten darüber, dass wir ihn gefunden haben. Such Captain Epi und bring ihn hierher! Der weiß bestimmt Näheres«, befahl der Truppenführer dem älteren Polizisten.
»Sie kommen mit uns mit! Man sucht im Schloss schon die ganze Zeit nach Ihnen!«
Charly nahm die Worte nur noch verschwommen war. Er fasste sich an den Hinterkopf und war kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Mit letzter Kraft versuchte er, dem Truppenführer zu folgen und sich in einen der Polizeiwagen zu retten, so dass sie ihn nicht zurücklassen würden. Charly wollte mit seinem ganzen Willen in dieses ominöse Schloss gelangen.
Читать дальше