„Das Bild heißt ‚Die hundert Hampelmänner‘“, hat mir Virginia Lindt bei meinem ersten Besuch in ihrem Büro amüsiert erklärt. „Meine Schwester Gwendolyn hat es gezeichnet. Es ist ganz gut gelungen, nicht wahr?“
„Ja, deine Schwester hat wirklich Talent“, habe ich lächelnd zugestimmt, obwohl ich den merkwürdigen Humor von Virginia Lindt und ihrer Schwester keineswegs teile. So etwas Niveauloses.
Als ich heute das Büro meiner besten Freundin aufsuche, sitzt Virginia Lindt fleißig an ihrem Schreibtisch und bereitet sich auf die Mandantenbesprechung heute Nachmittag vor. Verwundert nimmt sie den Blumenstrauß entgegen. „Womit habe ich den denn verdient?“, möchte sie wissen.
Gute Frage. Aber natürlich habe ich mir schon einen plausiblen Grund überlegt. „Hast du etwa vergessen, dass du vor ungefähr einem Monat in der besagten Partnersitzung befördert wurdest? Wenn das nicht ein kleines Freundschaftsgeschenk wert ist.“ Achtung, Britta, sonst wirst du auf deiner Schleimspur noch ausrutschen.
Lächelnd befreit Virginia Lindt die Blumen aus der Verpackung. „Wie großzügig von dir, Britta!“, ruft sie entzückt. „Und dann auch noch meine Lieblingsfarbe. Ich danke dir.“
Als die Blumen mit Wasser versorgt sind, wird Virginia Lindt ernst. „Meinst du, die Besprechung später wird gut verlaufen?“
Ich weiß genau, worauf sie hinauswill. Virginia Lindt unterstützt zurzeit Karsten Säck und mich in einem Mandat. Heute sollen den Mandanten die ersten Lösungsvorschläge präsentiert werden. Karsten Säck ist für seine schlampige Vorbereitung, die er durch fiese Kommentare zu kaschieren versucht, berüchtigt.
„Sei unbesorgt, Virginia“, mache ich meiner besten Freundin Mut. „Es wird eine Katastrophe werden, wie immer. Aber die Mandanten werden nichts davon merken.“
Später im Konferenzraum reißt Karsten Säck das Wort sofort an sich und präsentiert einige an die Leinwand geworfene Folien. Die drei männlichen Vertreter des Pharmakonzerns, den wir beraten, hängen an seinen Lippen. Virginia Lindt macht sich schweigend Notizen. Karsten Säck hat ihr in einer kurzen internen Vorbesprechung schon deutlich gemacht, dass sie nur zuzuhören hat: „Wenn der Kuchen spricht, schweigen die Krümel, Schätzchen.“
Hilfesuchend hat Virginia Lindt mich angesehen. Ich habe sie ermunternd angelächelt. „Nimm diesen Idioten nicht ernst“, sollte das heißen. Mir fällt wieder ein, dass ich noch immer Norbert Hanta nicht erreicht habe, der doch Karsten Säck unschädlich machen soll. Wo sich dieser Kerl nur herumtreibt. Schon seit Wochen höre ich nur die dämliche Bandansage „Bin verreist“.
„Kommen wir jetzt zum wichtigsten Punkt“, fährt Karsten Säck selbstbewusst fort. „Daran haben Sie sicher noch nicht gedacht.“
Eine weitere Folie wird gezeigt. Die Mandanten lauschen gespannt. Bei dem hohen Honorar, das Hamilton & Lace verlangt, gehen sie natürlich davon aus, dass die vorgetragenen Fakten ihre Richtigkeit haben. Doch leider stimmt das, was Karsten Säck ihnen erzählt, an einigen Stellen nicht. Er hat die Mandatsunterlagen nur überflogen, das merkt man jetzt genau. Und die Präsentation hat doch einer der für ihn tätigen Anwälte erstellt, er selbst jedenfalls nicht. Schließlich kann ich es nicht mehr länger schweigend ertragen. „Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle unterbreche“, sage ich. Auf einmal sind alle Augen auf mich gerichtet. Ich brauche keine Notizen und auch keine Präsentation, um den Sachverhalt richtig darzustellen. Dabei hole ich noch nicht einmal so weit aus, wie es eigentlich nötig wäre, um Karsten Säck und damit die Kanzlei nicht zu blamieren. Als ich geendet habe, herrscht einen Moment lang Stille.
„Britta, Britta, dass du immer alles so verkomplizieren musst“, sagt Karsten Säck schließlich mit einem gezwungenen Lächeln. Dann wendet er sich an die Mandanten. „Meine Herren, Sie wissen es sicherlich aus eigener Erfahrung: Es gibt nur zwei Arten von Frauen: die schwierigen und die ganz schwierigen.“
Schallendes Gelächter. Virginia Lindt blickt betreten zu Boden, als hätte die Äußerung ihr gegolten. Ich sehe gelassen in die Runde. Das wird der Mistkerl bitter bereuen.
Am nächsten Tag wähle ich in meinem Büro von meinem Handy aus erneut die Nummer von Norbert Hanta, nachdem ich ihn nach der gestrigen Sitzung wieder einmal nicht erreicht habe. Ich muss jetzt dringend etwas gegen Karsten Säck unternehmen.
„Sind Sie endlich aus Ihrem Urlaub zurück“, herrsche ich den Detektiv statt einer Begrüßung an.
Norbert Hanta erkennt meine Stimme oder meine Telefonnummer sofort. „Frau Dr. Klein, was für eine Ehre.“
„Lassen Sie die Schmeichelei. Ich habe einen wichtigen Auftrag für Sie.“
Norbert Hanta hört schweigend zu. „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Dr. Klein“, sagt er schließlich. „Sie können sich auf mich verlassen. Wie immer.“
Nach dem Gespräch geht es mir schon besser. Endlich ein kleiner Lichtblick nach der ärgerlichen Besprechung gestern. Und auch sonst laufen die Dinge in der letzten Zeit nicht so, wie ich es mir vorstelle. Denn ich muss zugeben, dass es anstrengender ist als gedacht, die beste Freundin von Virginia Lindt zu spielen. Jetzt muss ich meine knappe Freizeit mit ihr verbringen, sie beim Kleiderkauf beraten, ein neues Restaurant in der Stadt ausprobieren, Kunstwerke ihrer Schwester Gwendolyn auf einer Vernissage bewundern, eine sentimentale Schnulze im Kino ansehen und langweiligen Champagner in einer Bar trinken, obwohl ich viel lieber etwas Härteres zu mir nehmen würde.
Wenigstens ist es mir gelungen, die Beförderung von Virginia Lindt zur Partnerin in das nächste Jahr zu verschieben, indem ich in der Partnersitzung vorgeschlagen habe, dieses historische Ereignis in den Februar zu legen, wenn das vierzigste Kanzleijubiläum ansteht. Die Partner, die Virginia Lindt unterstützen, sind von meiner Idee ganz angetan, die anderen weigern sich strikt, dieses Thema überhaupt weiterzuverfolgen. Jeden Dienstag gibt es deshalb hitzige Diskussionen, und Achim Bär muss noch länger als gewöhnlich auf sein Mittagessen warten. Ich habe jedoch keine Hoffnung, dass die Widersacher den Plan, Virginia Lindt als Dreizehnte in die Partnerschaft aufzunehmen, noch vereiteln werden. Das ist auch egal, denn bis Februar wird Virginia Lindt bereits am Boden zerstört sein und Hamilton & Lace verlassen haben. Ich habe inzwischen auch schon eine Idee, wo ich ansetzen werde. Denn wie geplant erfahre ich viel aus dem Privatleben meiner besten Freundin, die in der Nähe von Berlin aufgewachsen ist. Das meiste möchte ich zwar gar nicht wissen, doch ich höre trotzdem scheinbar interessiert zu, wenn Virginia Lindt erzählt, dass ihre Mutter, eine Kosmetikerin, ein Patent zur künstlichen Wimpernverlängerung angemeldet hat. Oder dass ihr Vater, ein passionierter Hobbybastler, massenweise Holzpuzzles für Waisenhäuser produziert. Dann lenke ich unser Gespräch geschickt auf das vielversprechendste Thema: Virginia Lindts Verlobter. Das ist ihr wunder Punkt, mit dem ich ihr Leben zerstören werde. Ich weiß es. Leider habe ich den Mann noch nicht persönlich kennengelernt. Dabei wäre es für die weitere Planung hilfreich zu wissen, was für einen Charakter er hat. Doch Virginia Lindts Verlobter ist ein erfolgreicher Architekt, der ein Prestigegebäude am Hafen entworfen hat und sich derzeit ständig auf der Baustelle aufhält, um jeden Schritt der Konstruktion zu überwachen. Ein Bild des Mannes steht auf Virginia Lindts Schreibtisch. Er ist gutaussehend, hat schwarzes welliges Haar und blickt mit einem strahlenden Lächeln in die Kamera. Er erinnert mich an jemanden. An jemanden von früher. Ich weiß, dass es wichtig ist, aber es will mir partout nicht einfallen, wem der Verlobte gleicht. Nächstes Frühjahr will Virginia Lindt diesen Adonis heiraten. Sie ahnt noch nicht, dass es niemals dazu kommen wird.
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