Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und suchte sich den Weg über ihre Wange. Mit einem Lächeln spürte sie Annis Hand auf ihrer Schulter. Das war der schönste Anblick seit Langem. Besser noch. Es schien Nik nichts auszumachen, sich in diesem Zimmer aufzuhalten. Er summte unaufhörlich eine Melodie vor sich hin, während er akribisch die einzelnen Regalböden durchsuchte, aber allem Anschein nach, nicht das fand, was er suchte. <> Nik brach den Satz ab, als er sich umdrehte und die beiden erspähte, die ihn immer noch unverhohlen anstarrten. <>
<>, flüsterte Chris. <>
Er zog die Augenbrauen zusammen. <>
<>, stammelte Anni wenig überzeugend. Ihre Blicke ruhten weiterhin auf seiner Person und lasteten jetzt beinahe tonnenschwer auf seinen Schultern. Die beiden standen mit gefalteten Händen vor ihm. Bereit einzugreifen, wenn die Situation es von ihnen verlangte. Und plötzlich fiel es auch ihm wie Schuppen von den Augen. Warum sich die beiden so komisch benahmen und wo er sich befand. Er hatte diesen Raum seit einem Jahr nicht mehr betreten. Weil er es einfach nicht konnte. Weil schon der Gedanke an diese vier Wände genügten, ihn in Angst zu versetzten. Aber etwas in ihm hatte sich verändert. Kaum zu sehen, holte er tief Luft und zwang sich einen Blick auf die Stelle zu riskieren, wo er vor gut zwölf Monaten stundenlang um sein Leben gekämpft hatte. Zu seiner Überraschung schlug sein Herz ganz normal und nicht wie üblich bis zum Hals. Endlich. Der letzte Punkt auf seiner To-do Liste. Abgehakt.
Er hatte gestern einen mehr als turbulenten Tag erlebt. Mit einem wundervollen Abschluss und einer noch wundervollere Nacht.
Und das Glück, dass er immer noch in seinem Herzen trug, hatte wohl ausgereicht, ihn diesen letzten Schritt, ohne dass es ihm großartig bewusst gewesen wäre, gehen zu lassen.
Eine schlüssige Erklärung, wie er fand, fühlte er sich doch immer noch unbesiegbar und unheimlich stolz. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und endlich entspannten sich auch Chris und Anni.
<>, fragte er um die Situation weiter zu besänftigen. <>
Chris verdrehte die Augen, während Anni zweideutig grinste. <>, fügte sie hinzu und zog das grüne, dicke Buch aus einem Stapel auf dem Schreibtisch hervor.
<>, sagte Nik und klemmte sich das Buch unter den Arm. Pfeifend ging er an den beiden vorbei. <>
<>, antworteten beide im Chor und sahen ihm nach.
<>, flüsterte Chris. Eine schöne Vorstellung und plötzlich empfand sie eine so starke Sehnsucht, dass es ihr im Herzen wehtat. Einen kurzen Moment später hörten sie Niks tiefe Stimme.
<<���Ähm… Sind wir eigentlich offiziell im Urlaub?>> Sein Gesicht spähte durch die angelehnte Tür.
<>, fragte Anni irritiert.
<>, antwortete er mit spielerischer Leichtigkeit. Alle sollten es sehen. Er fühlte sich seit gestern, wie neu geboren. Sein Leben machte endlich wieder Sinn.
Und dieses Gefühl mit seinen Liebsten zu teilen, bedeute ihm alles, auch wenn er sich dabei im Augenblick etwas übermütig benahm. Völlig egal, denn damit mussten heute wohl alle klar kommen.
Montag, 06. Mai, 10 Uhr 55
<>, sagte Nik und streckte dem Pferdebesitzer seine Hand entgegen.
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Nik lächelte. <>
<>, antwortete der Mann knapp und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Froh über den glücklichen Ausgang dieser Geschichte, räumte Nik sämtliche Behandlungsgegenstände zurück in seine Tasche. Er betreute die kleine Stute schon von Anfang an und in der vergangenen Woche hatte diese wirklich einen Schutzengel dabei gehabt. Sie war auf der Weide aus ungeklärter Ursache ausgerutscht und hatte sich in einem Stück Stacheldraht verfangen. Und hätten die Besitzer nicht so schnell reagiert, hätte die ganze Sache viel schlimmer enden können. Er schloss die Kofferraumklappe seines Wagens und setzte sich hinter das Steuer.
Langsam rollte der SUV von Wagners Auffahrt zurück auf die Landhauser Straße Richtung Stadtzentrum. Ein Anruf der Praxis ging ein und unterbrach die Stille im Wageninneren.
<>, meldete sich Nik sofort.
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<>, sagte er und beendete das Gespräch.
Eine Viertelstunde später hatte Nik den kleinen, etwas in die Jahre gekommenen Hof, erreicht. Gerd und Maria gingen beide steil auf die Siebzig zu und die jahrelange, harte Arbeit zollte nun langsam ihren Tribut. Sie taten ihr Möglichstes, waren aber körperlich nicht mehr unbedingt in der Lage, den Hof zu bewirtschaften. Die beiden Söhne hatten keine Lust, das Werk des Vaters fortzuführen. Was man ihnen in Anbetracht der heutigen Situation auch nicht verübeln konnte.
Marius, der ältere, lebte in Hamburg. Seinen Bruder Hendrik zog es nach Stuttgart, wo er inzwischen selbst eine Familie gegründet hatte. Fern der eigentlichen Heimat. Ein Zustand, der vor allem für Maria nicht leicht war. Gerne hätte sie ihre Enkelkinder öfter um sich gehabt. Aber alles aufgeben, um in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt zu leben? Das wäre für ihren Mann niemals in Frage gekommen.
Gerd Pröpper hatte diesen Hof von seinem Vater übernommen. Etwas anderes kannte er nicht und wollte auch jetzt nicht mehr damit anfangen. Nik wusste um die familiären Spannungen und irgendwie taten die beiden ihm leid. Schon allein deshalb hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, zwischendurch immer mal wieder bei dem älteren Ehepaar vorbeizuschauen, um nach dem Rechten zu sehen.
Für gewöhnlich stand die Tür zum Haupthaus tagsüber offen. Nik klopfte höflich gegen den Rahmen.
<>, rief er und musste den Kopf einziehen, als er durch den niedrigen Flur trat um in eine Art Waschraum zu gelangen. Der Geruch von herzhafter Erbsensuppe stieß ihm in die Nase und sofort merkte er, dass sein Magen knurrte und das heutige halbe Brötchen definitiv zu wenig Frühstück für ihn gewesen war. Noch einmal klopfte er gegen eine Tür um auf sich aufmerksam zu machen. <>
<>, hörte er eine Stimme rufen und trat in den großzügigen Küchenraum ein. Vor dem Herd kniete die alte Frau und inspizierte das frisch gebackene Brot.
Über ihrem grauen Rock und dem beigefarbenem Pullover, trug Sie eine mit Rüschen besetzte Schürze. Sie war nicht sehr groß und ihre rundlichen Formen verliehen ihr ein warmherziges Auftreten.
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<>, antwortete sie voller Freude und schloss die Ofentür. Schwerfällig zog sie sich an der Arbeitsplatte nach oben um ihn zu begrüßen. Besuche, auch wenn sie noch so kurz ausfielen, waren für Maria eine willkommene Abwechslung. <>
<>, sagte Nik und riskierte einen Blick in den riesigen Kochtopf. <>
<>, fragte sie erschrocken.
Nik zuckte mit den Schultern. <>
<> Erleichtert stieß sie die Luft aus. <>, entfuhr es ihr. Nik schaute über seine Schulter und zog eine Braue hoch.
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<> Sie drehte ein Geschirrtuch zusammen und man sah ihr an, dass sie sich ein wenig unbehaglich fühlte.
<>, seufzte Nik. <>
<>, bemerkte sie trocken und kramte einen großen Löffel aus der Schublade. <>
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<>, antwortete sie.
Er grinste. <>
Ein dröhnendes Motorengeräusch drang von der Hintertür aus in die Küche. Nik musste sich auf seine Ellbogen stützen, um durch das kleine Fenster einen Blick nach draußen zu erhaschen. Gerd Pröpper bog mit seinem alten Traktor um die Hausecke und parkte den grünen Deutz vor der Scheune. Er schaltete den Motor ab, packte seine Hündin am Halsband und hievte sich behäbig von seinem Gefährt. Missmutig wandte er den Blick in Richtung Auffahrt und entdeckte Niks Wagen. Aber seine Miene blieb unergründlich. Auch dann noch, als er Pia an ihre Hütte gebunden hatte und mit schlurfenden Schritten in die Küche trat. Noch bevor Nik etwas sagen konnte, schnitt der Hausherr ihm mit einer deutlichen Handbewegung, dass Wort ab. <>
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