Kazimierz aß jetzt tüchtig, denn er benötigte seine ganze Kraft für die Schiffsarbeiten, in die er von fremden Männern eingewiesen wurde. Die Männer, die sich in einem unverständlichen Kauderwelsch anschrien, strotzten vor strammen Muskelpaketen. Ihre glänzende Haut strömte einen derben Schweißgeruch aus.
Bruder Robert sah regelmäßig nach seinem Schützling. Und Kazimierz lernte die fremden Sprachen – Französisch und Italienisch –, bis es kein Kauderwelsch mehr war. Er las alles über Schiffsbau und Meereskunde, was der Mönch ihm zu lesen gab. Er würde der seetüchtigste Junge weit und breit werden, nahm er sich vor. Und eines Tages würde Kazimierz das Schiff über das Meer in den Osten fahren.
In der Küche war es still geworden. Und auch sonst war nichts mehr zu hören. Es war so still, dass die Großmutter ein leises, kaum hörbares Schluchzen wahrnahm, das über den schmalen Wohnungsflur durch die Wohnzimmertür über den senffarbenen Teppich zu ihnen auf die Couch kroch. Mamusia weinte. Anna stand auf und ging zu ihrer Schwiegertochter in die Küche.
„Wo ist Tatuś?“, fragte Helene in die Stille.
„Er ist nach Warschau gefahren. Zum Woidwodschaftsamt.“
„Wohin?“
„Er besorgt die Papiere für Deutschland.“ Magdalena fuchtelte in der Luft herum, als könnte sie damit etwas erklären. „Die Papiere, du weißt schon …“ Dabei schnitt sie Grimassen.
Sie müssen uns die Papiere geben! Wenn sie von Magdalenas Herzkrankheit erfahren, dann müssen sie uns die Papiere geben! Ihr Herz ist unsere Ausreisegenehmigung, verstehst du?
Sie sah im Geiste den Vater vor sich. Mit dem Rücken zu ihr, durch den schmalen Türspalt in der Mitte halbiert. Die Mutter hatte sie nicht sehen können, denn sie war hinter der Tür am Küchenbuffet gestanden. Und sie hörte wieder seine Worte, die sie belauscht hatte. Sie machte ein ernstes Gesicht und atmete tief durch.
Die kleine Schwester kicherte und sagte:
„Das war Deutsch, oder? Ich habe nichts verstanden.“ Sie schnappte sich das Buch, das Babcia Anna aufgeklappt auf dem bestickten Tischläufer liegengelassen hatte. „Was steht da? Liest du jetzt weiter, ja?“ Sie gab Magdalena das Buch.
„Du kannst doch selbst lesen.“
„Ja, aber lies trotzdem du.“
In der gleißenden Mittagssonne blitzte plötzlich, nur einen Schritt von Kazimierz entfernt, ein scharfes, kaltes Licht auf. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er die Gefahr erkannte und vor Schreck erstarrte. Eine Messerklinge funkelte den Jungen bedrohlich an. Über dem Metallstrahl fixierten ihn zwei schwarze Kohleflecken und ließen nicht von ihm ab; wie von einem Raubtier wurde Kazimierz von den glühenden Augen taxiert, als sollte er im nächsten Moment mit einem Biss verschlungen werden …
„Hellblaue Autos fuhren auf dem weißen Schlafanzug.“
„Du spinnst! Lies gescheit!“
Dann flog das Messer knapp an Kazimierz´ linkem Ohr vorbei. Er konnte den Luftzug spüren. Er wagte nicht zu atmen und starrte wie paralysiert in ein dunkelhäutiges kleines Gesicht. Das Raubtier war nur ein kleiner Junge! Mit einem Messer bewaffnet schien er allerdings nicht besonders friedfertig zu sein, zumal er damit nach ihm geworfen hatte. Der fremde Junge löste sich aus dem Schatten des Schiffsmastes, trat hinter Kazimierz und zog das Messer aus einem Schlangenkopf.
„Iiii!“ Helene warf unversehens ihre Beine hoch und traf ihre Schwester mit der harten Gummisohle ihres Hausschuhs.
„Au! Du Doofe!“
Es war Kazimierz´ erste Begegnung mit Mustafa, einem sarazenischen Jungen, der sich in seinem Heimatland auf das Schiff der Kreuzritter geschmuggelt hatte, denn Mustafa war mit einem geheimnisvollen Auftrag losgeschickt worden, ins Abendland zu reisen. Eines Tages würde er Kazimierz davon erzählen. Der Tag, an dem er Kazimierz vor dem Biss einer Schlange bewahrt hatte, war erst der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft.
„Warum liest du nicht weiter?“ Helene zwickte ihre Schwester unsanft in den Arm.
„Ich lese doch“, sagte Magdalena und schlug nach Helene.
„Ich höre aber nichts.“ Helene schlug zurück.
„Weil du nicht zuhörst.“ Magdalena hatte leise weiter gelesen, es aber nicht bemerkt. „Ich werde nach Warschau fahren und Tata abholen“, sagte sie plötzlich sehr ernst, so dass Helene unwillkürlich Ruhe gab.
„Das steht da nicht,“ sagte sie schmollend.
Die Mädchen schwiegen eine Weile. Magdalena starrte in das aufgeschlagene Buch auf ihren Knien.
„Aber wie willst du denn alleine bis nach Warschau kommen?“ Helene sprach aus, worüber sie beide gerade angestrengt nachdachten. Aus der Küche rief die Großmutter, dass sie Schluss machen und sich fürs Bett richten sollten.
„Wo steckt Andrzej?“ Die Stimme der Mutter war hauchdünn geworden, von Tränen durchlöchert.
Magdalena stand auf und ging zum Zimmer ihres Bruders.
„Er ist da!“, schrie sie laut über den schmalen Flur. Sie hoffte, das würde ihre Mutter ein wenig beruhigen. Andrzej saß an seinem Schreibtisch über viele kleine graue Plastikteile gebeugt.
„Was wird das?“ Magdalena hob mit spitzen Fingern – so klein waren die Teile – ein dünnes Röhrchen hoch. „Was baust du denn?“
„Leg es wieder hin! Du bringst alles durcheinander.“
Neben der Bauanleitung standen kleine Farbtöpfchen am oberen Schreibtischrand, fein säuberlich nebeneinander gereiht, von hell nach dunkel geordnet. Andrzej hatte die Fähigkeit, seinen Arbeitsplatz immer sehr übersichtlich und strategisch klug einzurichten. Weiße Farbe, gelbe Farbe, rot, blau, schwarz. Schöne Farben in kleinen silbernen Töpfchen. Der Bauanleitung war zu entnehmen, dass es ein Schiff werden sollte.
„Darf ich es später anmalen, wenn es fertig ist?“ Manchmal durfte Magdalena Andrzejs Bastelarbeiten anmalen, wie kürzlich die Laubsägearbeit von Schneewittchen und den sieben Zwergen, das Weihnachtsgeschenk für Helene. Wenn Magdalena sich genau an die Anleitung halten würde, nur dann! Das war stets seine Bedingung. Magdalena fühlte sich von den Farben magisch angezogen.
„Wo ist die Farbanleitung?“, fragte sie, sicher, dass er nicht nein sagen würde.
„Nein. Ich werde es selbst bemalen.“
„Proszę!“ Magdalena setzte ihren Jammerton ein, den sie jederzeit steigern konnte, bis hin zu einem Heulen, das die Mutter alarmieren würde.
„Ich will es anders anmalen“, sagte Andrzej ohne aufzusehen.
„Anders? Wie denn?“ Sie war erstaunt.
„Weiß und rot.“ Andrzej blieb mit seinen Augen stoisch bei der Arbeit.
„Weiß und rot? Fein! Ich male es weiß und rot an! Schnitzt du mir einen Ritter? Den mal ich dann auch weiß und rot an! Die Tempelritter haben nämlich ein rotes Kreuz auf ihren weißen Umhängen, und das Schiffssegel ist auch …“
„Jetzt hau endlich ab, du nervst mich!“ Er schlug nach ihr.
„Maaamusiaaa!“
„Ist ja gut, beruhige dich wieder! Du darfst das Schiff anmalen, aber nur in Weiß, ganz in Weiß, hast du mich verstanden?“
„Und das rote Kreuz?“
„Da kommt kein rotes Kreuz drauf. Ich werde Solidarność in Rot draufschreiben.“
„Oh, das wird bestimmt schön! Darf ich das machen?“
Andrzej runzelte die Stirn, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Er wusste, dass sich seine Schwester Mühe geben würde, sie malte immer sehr sorgfältig. Vielleicht würde sie es sogar besser können als er selbst? Er schüttelte den Kopf.
„Nein, du verstehst nichts davon.“
„Wovon versteh ich nichts?“ Magdalena verspürte die Lust, ihren Bruder zu zwicken. Was glaubte er denn, wer sie sei? Ein dummes Gänschen vielleicht? Aber sie beherrschte sich.
„Ab in die Falle, Lene!“ Babcia Anna stand im Türrahmen.
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