Die Kommissarin ließ Bilićs Anspielung auf Sherlock Holmes abtropfen. Sie blickte stattdessen unverwandt Tull. Ihre starren Augen ließen ihn irgendwie an einen Frosch denken.
„Es geht um einen deutschen Staatsangehörigen“, erläuterte Tullius. „Christian Schönherr. Er wohnt offiziell in Düsseldorf, aber einen Großteil des Jahres verbringt er hier in Dalmatien. Schönherr ist in der Tourismusbranche; er organisiert Segelausflüge. Seit etwa drei Wochen hat er sich nicht mehr bei seinen Eltern in Deutschland gemeldet. Die machen sich Sorgen um ihn.“
Martinić nickte. Sie griff eine der Akten auf ihrem Schreibtisch. „Wir haben vergangene Woche eine Vermisstenanzeige bekommen und gehen der Sache nach.“
„Irgendwelche Ergebnisse – etwas, was die Botschaft der Familie in Deutschland berichten könnte?“
Die Mundwinkel der Kommissarin zuckten. „Die lieben Eltern machen sich Sorgen, dass diese jugoslawischen Polizisten nicht ordentlich arbeiten?“ Ihre Ironie war unüberhörbar, schon weil sie das veraltete Wort „jugoslawisch“ verwendete. Diesen Ausdruck betrachteten Kroaten als abwertend und nahmen es Touristen übel, wenn sie aus Ignoranz oder Versehen immer noch von „Jugoslawien“ sprachen, aber das seit Jahrzehnten eigenständige Kroatien meinten.
Tull ging auf den impliziten Vorwurf nicht ein. „Schönherr ist ein bekannter Geschäftsmann. Ein erfolgreicher Unternehmer, jemand, der für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren Ländern viel tut. Und dann verschwindet er auf einmal? Da wird man von deutscher Seite wohl einmal nachhaken dürfen.“
„Vor allem, wenn die Eltern des Vermissten Rotarierfreunde eines Ihrer Bundestagsabgeordneten sind.“ Nanu, Rotarierfreunde – diese Martinić hatte offenbar ihre Hausaufgaben gemacht. Ganz so eng hatte Abraham das Verhältnis von Schönherrs Familie zur Politik nicht dargestellt. Römer beschloss, sich das zu merken.
Sie fuhr fort: „Sie können allseits berichten, dass wir hier ordentlich unsere Arbeit erledigen. Wir haben alle in Frage kommenden Dienststellen informiert, einschließlich der Küstenwache. Niemand hat Herrn Schönherr gesehen. Mit seiner Freundin habe ich zweimal gesprochen. Sie sagt, er sei wohl auf einer Geschäftsreise. Das komme öfter vor. Es sei ungewöhnlich, dass er sich nicht melde, aber sie hätten vor seiner Abreise Streit gehabt, und sie gehe davon aus, dass Schönherr sie ein wenig schmoren lassen wolle.“
„Worum ging es bei dem Streit?“
„Laut Frau Holmen – das ist der Name der Freundin, Evalotta Holmen, schwedische Staatsangehörige – eine persönliche Angelegenheit. Sie wollte keine Details preisgeben.“
„Könnte es sein, dass diese Frau Holmen etwas mit Schönherrs Verschwinden zu tun hat?“
Martinić zuckte die Achseln. „Wenn das hier ein deutscher Vorabendkrimi wäre, dann bestimmt. Die berechnende Liebhaberin und Geschäftspartnerin ist darin ja ein Lieblingsmotiv. Leider gibt es außer der Einfallslosigkeit der Drehbuchautoren keinerlei Anhaltspunkte für Holmens Schuld. Und Einfallslosigkeit reicht nicht für einen Haftbefehl.“
„Sie kennen sich mit dem Fernsehprogramm in meinem Heimatland offenbar aus.“
„Sie werden es nicht glauben – Kabelfernsehen und Satellitenschüsseln existieren auch bei uns auf dem Balkan.“
„Da bin ich beruhigt.“
Tull hätte sich treten können, dass er auf Martinićs spöttische Provokationen einging – zumal, wenn er ganz ehrlich war, ihre offensichtliche Verärgerung über seine Einmischung berechtigt war: Was wollte er denn hier machen, das die Kroaten nicht schon vor ihm getan hatten? Genau so etwas hatte auch der Botschaftsrat in Zagreb angedeutet und davor gewarnt. Tatsächlich tat das Gezänk der Atmosphäre im Raum nicht gut.
Tanja Bilić schaltete sich ein. „Frau Kommissarin, waren Sie mal in Schönherrs Wohnung?“
Die nickte. „Ja. Holmen hat uns reingelassen. Die beiden wohnen zwar nicht zusammen, aber sie hat einen Schlüssel. Und so konnten wir auf einen Durchsuchungsbefehl verzichten.“
„Ziemliche Grauzone“, kommentierte Tull. „Betreten einer Privatwohnung ohne Zustimmung des Wohnungsinhabers, nur mit Erlaubnis einer dritten Person…“ Hoffentlich hatte er Recht mit dieser kühnen Behauptung. Seine Fachkenntnis rührte aus der Vorlesung „Strafrecht für Anfänger“, die er gehört hatte, als er vor vielen Jahren noch erfolglos Jura studiert hatte, sowie von der gelegentlichen Lektüre eines Krimis.
„Na sehen Sie“, konterte Martinić ungerührt. „Wir tun sogar mehr als unsere Pflicht. Vielleicht berichtet Sie das nach Deutschland“, stichelte sie und fuhr fort: „Jedenfalls gibt es nichts Ungewöhnliches in der Wohnung. Keine Unordnung, keine Anzeichen von Gewaltanwendung, alle Fenster zu, alle elektrischen Geräte ausgeschaltet. Im Badezimmer fehlen Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierer… Es sieht alles so aus, als sei Schönherr in Ruhe abgereist. Das einzige, was ich komisch fand, war eine Packung Kondome neben dem Bett. Wer verhütet denn mit Gummis, wenn er in einer festen Beziehung ist? So wie angeblich Schönherr und Holmen?“
„Das soll vorkommen“, meinte Tull. Seine Ex und er hatten Kondome benutzt. Aber solche intimen Details wollte er dann doch nicht preisgeben.
„Ja. Andererseits legt es die Möglichkeit nahe, dass die Beziehung zwischen Holmen und Schönherr nicht so fest und auf Dauer angelegt war, wie es Ihre Drehbuchschreiber vom Vorabendfernsehen gerne hätten. Ist die schwedische Freundin vielleicht doch nicht unschuldig? Fortsetzung nächste Woche.“
Diesmal ging Tull auf die Stichelei nicht ein. „Lässt sich nachvollziehen, ob Schönherr auf irgendwelchen Passagierlisten stand? Zumindest, wenn er das Land mit dem Flugzeug verlassen hat, müsste er doch eine Spur hinterlassen haben.“
„Hat er nicht. Aber das kann nun wirklich niemanden überraschen. Holmen sagt, sie wisse nicht genau, wohin Schönherr gewollt habe. Er kann in alle Richtungen gefahren sein, nach Slowenien, Ungarn – das sind EU-Binnengrenzen, da kontrolliert Sie, zumal in der Hauptreisezeit, kein Mensch, wenn Sie beim Anblick von Uniformierten nicht gerade Koransprüche murmeln. Nur die Mautplakette müssen Sie haben, falls Sie mit dem Auto nach Slowenien wollen… Vielleicht ist Schönherr auch in die Herzegowina gefahren, dahin ist die Grenze praktisch offen. Oder er ist als Deckspassagier mit der Fähre nach Italien – wir wissen es nicht.“
„Kann man prüfen, ob er irgendwo seine Kreditkarte eingesetzt oder Geld abgehoben hat?“
„Man kann – und wir haben sogar. Seit Schönherrs Abreise hat es keine Kontobewegung gegeben. Das hat jedoch nichts zu besagen: Laut Holmen hatte er immer erhebliche Bargeldbestände.“
„Sein Mobiltelefon?“
„Ist offenbar ausgeschaltet.“
Schönherr war ratlos. „Und jetzt?“
Martinić klappte die Akte zu, die sie offen vor sich liegen gehabt hatte. „Jetzt, Herr Römer, lassen Sie die kroatische Polizei weiter ihre Arbeit verrichten. Wir machen das genauso gut wie die deutschen Kollegen, auch ohne, dass Sie uns auf die Finger gucken.“
„Das war ein erstklassiger Rauswurf, aber kein Abgang erster Klasse“, kommentierte Bilić, als sie auf dem Wege aus dem Gebäude waren.
„Ja, und vielen Dank auch für Ihre Hilfe“, zankte Tull, dem Bilićs katziges „Elementar, lieber Watson“ im Gedächtnis geblieben war.
„…Ich hatte einen Aleksandar Martinić erwartet. Natürlich kann Saša auch für Aleksandra stehen…“ wiederholte Bilić statt einer Antwort seinen Faux-pas. „Und dann machen Sie der leitenden Kommissarin auch noch ziemlich deutlich, dass Sie, stellvertretend für alle Deutschen, ihr nicht vertrauen. Was hätte ich denn da bewirken sollen?“
Tullius giftete zurück: „Na, Sie haben sich nicht gerade zurückgehalten! Diese Anspielung auf Sherlock Holmes war völlig unnötig!“
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