„Kaffee?“ Tull nahm dankend an. Der Botschaftsrat rief ins Vorzimmer: „Frau Drache, können Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee bringen? Und eine Flasche Mineralwasser?“ Dann wandte er sich wieder seinem Besucher zu: „Herr Römer, ich hätte eventuell einen Auftrag für Sie“.
Der Vorzimmerdrache kam mit zwei dampfenden Tassen Blümchenkaffees, zwei Gläsern und einer grünen Flasche „Jamnica“-Wasser herein, stellte alles ab. Bis sie fort war, sagte der Botschaftsrat nichts, sondern wischte sich nur die nasse Stirn ab. Er schenkte die Gläser mit Mineralwasser voll und leerte seines auf einen Zug. „Ah, besser“, meinte er. Dann setzte er die Unterhaltung fort:
„Heute Morgen kam ein Anruf aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Der Leitungsstab höchst selbst – das Parlamentsreferat, um genau zu sein. Offenbar hat irgendein Abgeordneter dort einiges aufgemischt. Ein deutscher Staatsangehöriger sei hier im Lande verschwunden, und die kroatischen Behörden kümmerten sich nicht darum.“
Tull nickte stumm. Er sah noch nicht so ganz, was das mit ihm zu tun hatte.
Abraham fuhr fort: „So soll die deutsche Botschaft im schönen Land Kroatien jetzt Wunder wirken und den verlorenen deutschen Sohn finden. Worauf die hiesige Polizei – die nach aller Erfahrung professionell arbeitet – bestimmt nur gewartet hat.“
„Und was wollen Sie von mir?“ erkundigte sich Tullius jetzt doch.
Abraham lächelte. „Sie könnten mir aus einer Verlegenheit helfen. Sehen Sie, so einen Auftrag aus dem Leitungsstab kann ich nicht liegen lassen. Sonst reißt mir die Entourage des Ministers den Kopf ab oder versetzt mich zumindest nach Masar-e-Scharif.“
„Wo ist das denn?“
„In Afghanistan... Aber egal. Ich muss etwas veranlassen, Aktivität vorschützen. Andererseits wünschen die Kroaten garantiert nicht, dass die deutsche Botschaft sich in die Arbeit ihrer Polizei einmischt. Deswegen mein Gedanke: Könnten Sie, als Privatperson, vielleicht nach Split fahren und sich ein bisschen nach dem verschwundenen Deutschen umschauen? Dann kann ich Berlin gegenüber Tätigkeit vorweisen, ohne den Behörden hier unmittelbar auf die Füße zu treten.“
Tullius schüttelte den Kopf. „Ich bin doch kein Detektiv.“
„Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Die Familie des Vermissten wohnt offenbar im Wahlkreis eines Parteigenossen des Ministers.“
„Das mag ja sein, aber dennoch bin ich nicht der Richtige dafür.“
Der Bär ließ sich nicht beeindrucken. „Der Verschwundene heißt übrigens Christian Schönherr“, fuhr er fort. „Wohl so ein Reiseunternehmer, organisiert in Dalmatien Gruppenausflüge mit Segelbötchen.“
Erneut unterbrach ihn Tull. „Oh Gott, doch nicht die ‚Adriatic Adventure‘?“
Abraham nickte. „Doch, genau. Das sagt Ihnen etwas?“
„Die ‚Adriatic Adventure‘ ist eine Art Flottillensegeln. Die Organisatoren vermitteln Segelyachten an junge Leute und organisieren gemeinsame Törns. Tagsüber wird gesegelt, jeden Abend wird an einem anderen Ort gefeiert. Das Ganze ist sehr umstritten: Die Flottillen nehmen viel Platz weg, und andere Urlauber klagen, die Feiern seien sehr laut und sehr feucht. In den hiesigen Medien wird ziemlich kontrovers darüber diskutiert.“
„Worin besteht bei der Sache das ‚Adventure‘?“
„Keine Ahnung. Wenn ich den bösen Stimmen Glauben schenke, in erster Linie darin, jeden Morgen hinreichend viel Alka Seltzer aufzutreiben.“
Der Botschaftsrat verzog seine fleischigen Backen zu einem Grinsen. „Um zusammenzufassen: Der Organisator dieser Reisen ist vor einigen Wochen verlustig gegangen. Meldet sich nicht mehr bei den lieben Verwandten zu Hause. Die haben nichts Besseres zu tun, als das Wahlkreisbüro des nächsten Bundestagsabgeordneten madig zu machen, und der ist eben ein Spezi unseres BM – Verzeihung, des Herrn Bundesministers. Der Minister gibt die Sache ab an einen Mitarbeiter, und der wiederum findet, wir hätten uns der Sache anzunehmen. Un-ver-züg-lich. Blöderweise funktioniert das im wirklichen Leben nicht so, wie man sich das im Raumschiff Berlin vorstellen mag. Nicht nur wegen Unwillens der kroatischen Behörden, sondern auch, weil wir im Moment personell unterbesetzt sind: Es ist Ferienzeit, einer unserer Mitarbeiter ist versetzt worden und sein Nachfolger nicht in Sicht, eine andere Kollegin ist im Mutterschaftsurlaub, und um das Maß voll zu machen, ist unser wichtigster Dolmetscher längerfristig erkrankt. Das Herz… Da fällt mir ein: Es kann gut sein, dass wir dessen Stelle bis zu seiner Genesung neu besetzen müssen. Wäre das nicht etwas für Sie?“
Tullius musste kein Esel sein, um eine Möhre zu erkennen, wenn man sie ihm direkt vor die Nase hielt. „Sie meinen, es wäre gut für eine etwaige Bewerbung, wenn ich diesen Auftrag annähme?“
Der Botschaftsrat nickte. „Ich kann nichts versprechen. Aber sollte die Stelle ausgeschrieben werden, und sollte es mehrere Bewerber geben – dann wäre es natürlich von Vorteil, schon einmal erfolgreich in einer sensiblen Sache für uns gearbeitet zu haben.“
Eine feste Dolmetscherstelle bei der deutschen Botschaft! Das war keine schlechte Aussicht für Tullius, der sich mit seinen Gelegenheitsaufträgen mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Er nickte. „Na gut. Ihr Wort sei mir Befehl.“
Abraham lächelte. „Sehr schön Dann fahren Sie am besten gleich nach Split, reden mit den Leuten da. Honorarkonsul Purini kann Ihnen ein paar Türen öffnen. Morgen oder übermorgen kommen Sie zurück und berichten bitte, Sie hätten alles Menschenmögliche getan, auf der Suche nach dem verschollenen Herrn Schönherr unten an der dalmatinischen Felsenküste jeden Stein einzeln umgedreht. Ich bezahle Ihren üblichen Satz, ihre Unkosten, und Sie verdienen sich ein Fleißbienchen für Ihre Bewerbungsmappe.“
Tull erhob sich. „In Ordnung. Ich kann meine Termine für die nächsten Tage absagen. Aber Hoffnung auf Erfolg mache ich Ihnen nicht!“
Abraham schenkte ihm ein Bärenlächeln. „Ihren Erfolg, lieber Herr Römer, lassen Sie meine Sorge sein!“
Ohne sonderliche Eile schlenderte Tull wieder nach Hause und suchte ein paar Sachen zusammen, die er in Split brauchen würde. Dann stieg er in seinen stark alternden Golf, den der deutsche TÜV aus guten Gründen vor deutlich mehr als zwei Jahren zuletzt gesehen hatte, und machte sich auf den Weg an die dalmatinische Küste. Heute, in der Mitte der Woche, war der Verkehr leicht – ganz im Gegensatz zu dem Verkehrschaos, das am Wochenende in der warmen Jahreszeit entstand, wenn sich regelmäßig halb Mitteleuropa auf der Rennstrecke an die Adria zu tummeln schien. Bei Karlovac war Tull versucht, die Autobahn zu verlassen und die alte Landstraße, vorbei an den Plitvicer Seen und der ehemaligen Serbenhochburg Knin, zu nehmen. Das schien ihm dann aber doch zu riskant: Falls der Golf liegen blieb, war auf der Autobahn ein Abschleppdienst schnell zur Stelle – in den Wäldern und menschenleeren Karstfeldern links und rechts der Landstraße konnte man unter Umständen lange auf Hilfe warten.
Obwohl er die Strecke schon öfter gefahren war, hatte Tull nie herausfinden können, wo genau man dir gemäßigte Zone verließ und in den Mittelmeerraum gelangte. Irgendwo musste es doch einen Punkt geben, an dem eine Steineiche sich hervorwagte, der erste Olivenbaum wuchs. Er hatte diesen Punkt nie entdeckt. Es war jedes Mal so, dass Tullius' Blick irgendwo von der Straße abwich und er auf einmal dachte: „Aha. Orangenbäume. Oleanderbüsche. Palmen. Mittelmeer.“
Nachdem er die Autobahn verlassen und auf die Einfallstrecke nach Split gebogen war, bewunderte er ein römisches Aquädukt, das in stoischer Ruhe seit knapp zweitausend Jahren ein flaches Tal überbrückte. Dahinter standen riesige Einkaufszentren mit vermutlich kürzerer Lebensdauer und ganz gewiss geringerem ästhetischen Anspruch.
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