In dieser Stimmung kam ich nach Hause. Doch sie hielt nicht lange an, denn mein Leben holte mich schlagartig wieder ein. Mein Mann eröffnete mir, dass er eine Wohnung gefunden habe und in der kommenden Woche ausziehen würde. Das war eine harte Landung in der Wirklichkeit. Alles, was ich gewollt und mit meinen Gedanken und durch mein Handeln heraufbeschworen hatte, wurde jetzt wahr. Jetzt musste ich Neuland betreten und ich fürchtete mich sehr vor den Konsequenzen und all dem Unbekannten, das die Veränderung mit sich bringen würde.
Sie zieht es tatsächlich durch. So sehr drängt es sie in ein neues Leben, dass alle Ängste und Zweifel sie nicht zurück halten können. Wäre ich noch am Leben, ich hätte es nicht gut geheißen. Doch jetzt muss ich sagen: „Ich bin stolz auf dich mein Kind!“ Ich wünschte, ich wäre dir ein besseres Vorbild gewesen oder hätte dich mehr unterstützt. Und ich frage mich: „Wie war denn das bei mir? Was hat mir meine Mutter weiter gegeben?“ Du hast deine Oma nie kennen gelernt. Sie war eine starke Frau, musste ihre Familie in zwei Kriegen zusammenhalten und hat auch sonst viel Leid erfahren. Hatte sie eine andere Wahl als es schweigend zu ertragen, wenn sie nicht zerbrechen wollte? Das war es, was sie mich gelehrt hat: den Schmerz verbergen und das Beste daraus machen.
In diesem Zusammenhang würde ich dir gerne eine Geschichte über deine Großeltern erzählen. Letztendlich eine Lügengeschichte, die einmal in die Welt gesetzt wurde, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine verlogene Ordnung von Anstand und Moral. Nach den vielen Jahren des Schweigens hatte ich selbst fast vergessen, dass sich dahinter eine andere Wahrheit verbirgt. Ich war noch ein Kind und trotzdem hatte ich dieses Wissen in mir, dass etwas daran nicht stimmte. Wobei, von Wissen zu sprechen setzt ein Bewusstsein voraus, das ich gar nicht hatte. Es war mehr eine Ahnung, die wie ein Windhauch, der kommt und geht, gleich wieder vergessen ist und doch tief in unserem Empfinden abgespeichert wird.
Auf dem Hof meiner Eltern gab es viele Dienstboten. Mein Vater war ein gerechter Dienstherr und kümmerte sich gut um seine Leute. Und doch kam es mir seltsam vor, dass ich ihn nachts manchmal die Treppe zu den Kammern hochsteigen hörte. Ich hörte auch die Mägde manchmal über Dinge tuscheln, die ich nicht verstand. Eine von ihnen war schwanger. Sie war am Hof bis kurz vor der Entbindung. Dann ist sie, ich weiß nicht wohin, verschwunden. Einige Wochen später war plötzlich ein Baby da und alle sprachen davon, dass eines Morgens ein Findelkind vor unserer Haustüre gelegen hatte. Und weil der Bauer ja ein rechtschaffener, wohl angesehener Mann war, nahm er sich des kleinen Buben an, sorgte für dessen Unterkunft und Verpflegung. Ich glaube nicht an den Zufall! Den rechtmäßigen Platz in der Familie oder als Sohn durfte er aber nie einnehmen. Ob dieses Arrangement von meinem Vater alleine beschlossen worden war oder er das Einverständnis seiner Frau hatte, weiß ich nicht. Ich glaube eher nicht. Die Lüge war geboren und alle Beteiligten, allen voran meine Mutter, lebten damit. Du hast meinen Halbbruder ein- oder zweimal gesehen und kennst sein Schicksal. Er war kein glücklicher Mann und hat nie seinen Platz in unserer Familie und auch nicht in seinem Leben gefunden.
Warum mir diese Geschichte gerade jetzt wieder einfällt? Alles ist miteinander verbunden und der Einfluss den das Verborgene, das wir zu verdrängen versuchen, auf uns hat, ist enorm. Was macht uns solche Angst, dass wir meinen, Dinge unter den Teppich kehren zu müssen. Lieber wegschauen vor der Realität als sie anzuerkennen? Und welche neuen Ängste schüren wir, wenn wir die alten verdrängen?
Du fängst an, dich deinen Aufgaben zu stellen. Schweigen und Ertragen ist ein Vermächtnis deiner Vorfahren und du durchbrichst das alte Muster. Ein heilvoller Weg für dich und vor allem auch für alle, die nach dir kommen.
Johanna - Bestandsaufnahme
Ich war von den Ereignissen in meinem Leben geschockt, durcheinander und aufgeregt zugleich. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Dem Himmel sei Dank, dass ich es nicht alleine durchstehen musste. Ich hatte meine Kinder und Freunde an meiner Seite. Es war nicht so, dass sie alles ungefragt einfach abgenickt haben. Im Gegenteil, sie haben mir Fragen gestellt und mir Antworten abverlangt. Ich wurde getröstet, bestärkt und wenn nötig, wieder auf die Füße gestellt. Zudem, und das betrachte ich als noch viel größeres Geschenk, wurde ich nicht gedrängt. Ich durfte dann sprechen, wenn ich soweit war. Ich konnte das, was mir widerfuhr, ja selbst kaum glauben und manchmal wollte ich es einfach nur vergessen. Von außen betrachtet dachte ich manchmal: „Was für ein Theater! Auf der Welt passiert wirkliches Unglück und du machst ein Drama daraus, nur weil du den bekannten Pfad verlässt.“ Ich bin ausgebrochen aus einer Ehe, in der es schon lange nicht mehr um Freude ging und ein gemeinsames Wachsen und Entwickeln. Wir waren beide versorgt. Ich hatte die mir so wichtige Sicherheit, nicht alleine zu sein. Über den Versorgungspart, den ich im Leben meines Mannes erfüllte, will ich mich hier gar nicht auslassen, aber es fühlte sich sehr nach Köchin und Putzfrau an. Die Frau, die hinter der Kochschürze steckte, hatte nicht nur er nicht mehr gesehen, ich habe sie selbst vollkommen vergessen. Wahrscheinlich habe ich niemals wirklich gewusst, dass es sie überhaupt gibt oder geben darf. Irgendwie fühlte es sich an, als würden wir das Leben meiner Schwiegereltern kopieren. Und an diesem Punkt war eindeutig Schluss mit lustig!
Was bereitete mir letztendlich diesen großen Kummer? Die Enttäuschung nicht erfüllter Erwartungen, das Gefühl des Versagens, Schuldgefühle, die Angst vor dem Ungewissen, vor dem Alleinsein, wieder mit leeren Händen am Anfang zu stehen, niemanden zu haben, der die Richtung vorgibt? Ich hatte die leise Ahnung, dass mein Leiden erst aufhören würde, wenn ich all diesen Punkten auf den Grund gegangen sein würde. Trauern ist so viel mehr, als nur einfach zu warten, dass der Schmerz nach einer gewissen Zeit nachlässt. In schlauen Büchern las ich, wenn es mir gelänge hinter die Trauer zu blicken, könnte es mich ein schönes Stück näher zu mir selbst bringen. Die Enttäuschung würde mir zeigen, was tatsächlich meine Erwartungen waren. Auch, dass ich etwas von jemand anderem erwartet hatte, was ich mir selbst gleichzeitig verwehrte. Mein Verstand und auch mein Bauch sagten: „Ja, genau so ist das.“ Mein Gefühl, mein Körper und jede Zelle schrie: „Bist du wahnsinnig? Da hinzuschauen wird scheißweh tun!“
Wie ging es weiter in meinem Leben? Zunächst mussten wir den Umzug hinter uns bringen. Es lief alles ganz zivilisiert ab. Die Aufteilung von Haushaltsgegenständen war relativ einfach, da wir alles im Überfluss hatten. Es gab Geschirr und Besteck für mindestens drei Haushalte. Mein Mann war damals zu mir in mein Haus gezogen, so dass ganz klar war, welche Möbel er mitgebracht hatte und welche mir gehörten. Es kam eine Schar von Freunden. Die einen packten im Haus ein und die anderen packten in der neuen Wohnung wieder aus. Zwischendurch wurde gemeinsam geweint, gelacht und Brotzeit gemacht. Wäre der Anlass nicht so traurig gewesen, hätte man sagen können: was für ein schöner Tag.
Jetzt war ich also allein. Allein in einem Haus, in dem ich mit zwei Ehemänner gelebt hatte und meine zwei Kinder groß geworden waren. Erinnerungen an allen Ecken und Enden. Durch den Auszug war es zwar nicht leer geworden, doch wesentlich luftiger. Und so fühlte ich mich auch. Leichter und befreit. Schon seit Monaten schlief ich im Kinderzimmer meiner Tochter, das sie nach wie vor bewohnte, wenn sie auf Besuch heimkam. Ich fühlte mich wohl dort und bin deshalb nicht auf meine Seite des früheren Ehebettes zurückgekehrt.
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