Timo Rebus
Eisenzwerg
Zeitreise eines Morphems
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Inhaltsverzeichnis
Titel Timo Rebus Eisenzwerg Zeitreise eines Morphems Dieses ebook wurde erstellt bei
Der Druide
Als der Müll noch nicht sortiert wurde
Der Eisenzwerg wird gefunden
Hat Albert geträumt?
Der Zwerg wird verkauft
Der Zwerg wird geklaut
Die Jenischen
Der Eisenzwerg kehrt zurück
Der Zwergensammler
Die Polizei kommt
Kann der Zwerg sprechen?
Die Lebensgeschichte
Die Reise nach Amerika
Verabredung zur Taufe
Die besten Freunde
Frau Mergenthaler
Der Taufabend
Zwergensammlers Traum
Angst
Die Tränen
Der Zwerg als Schüler
Gefahren der Finsternis
Der Zwerg in der Schule und das Ende
Lehrer Kobold
Der Ausflug in die Metropole
Der Student
Die Zwergin
Es wirkt
Der Pegel steigt
Ganymed
Impressum neobooks
Der schlohweiße Bart und das schulterlange ebenso bleiche Haupthaar umrahmten ein zwar sehr faltiges, altes, aber immer noch rosiges Gesicht, das der hageren großen Gestalt in weissem Umhang den Anschein einer brennenden Kerze gab, die sich gegen den dunkel dräuenden Gewitterhimmel ehrerbietend abhob. Damit verbreitete sie eine Aura der Hoffnung und des Vertrauens, gepaart mit der erregenden Ungewißheit, die manche Menschen bei Kindern in einem gewissen Alter unwillkürlich hervorrufen, weil in jedem Augenblick ein Ausbruch freundlicher oder auch zorniger Worte zu erwarten ist. Aus der Perspektive des zehnjährigen Adepten, der zu seinem Meister, erwartungsvoll und furchtsam aufblickte, erschien der Vergleich einer brennenden Kerze vor der dunklen Wolke ebenso zutreffend wie ungewöhnlich. Zutreffend, weil das gebotene Bild wirklich so und nicht anders aussah und dazu als phantasieanregende Metapher entspannende Ausflucht vor der sich gerade auftürmenden und aufladenden Spannung und jeden Moment, wie das Gewitter, sich entladende urgewaltige Weisheit und Gelehrtheit ankündigte. Ungewöhnlich, weil die Vorstellung einer weißen Wachskerze zu dieser Zeit kaum einem Menschen möglich und nur eines der neulich gesehenen Wunder aus dem Kuriositätenkabinett des keltischen Lehrers war. So wie ich gerade über die Rechtmäßigkeit und Lauterkeit meines Gedankenspazierganges, also über meine Unaufmerksamkeit nachdachte und Gefahr lief, in der Gewitterschwüle und verloren im Labyrinth meiner, sich wie im Spiegelkabinett überstürzenden, Gedanken einzuschlafen, bemerkte ich gerade noch, wie der Druide die Hand hob, wohl, um mich abzuwatschen. Sofort war ich hellwach und lauschte mit höchster Aufmerksamkeit seiner, wie Gewitterdonner pathetisch auf mich zurollenden Stimme, als er plötzlich aus der erhobenen Faust heraus den Zeigefinger streckte und auf den schwarzweißen Gewitterturm zeigte.
“Das ist der Strom der Gedanken, der durch die Zeiten fließt. Viele, viele Gedanken, zahlreicher als die Sterne, treiben in ihm. Ein jeder war und ist eine wichtige Botschaft für seinen Empfänger, heute oder in zwanzig Wintern oder erst nach tausend Leben.”
Er blickte mich an und fand mich wohl geistlos dreinschauend, denn er fuhr, so meinte ich, etwas zorniger, vielleicht auch nur pathetischer, fort:
“Wir Druiden sind dafür verantwortlich, daß der Strom der Gedanken nicht abreißt, daß er nicht versickert oder fehlgeleitet wird.
Wir sind die Lenker und Mechaniker des Stromes. Wir sorgen dafür, daß die ewigen Botschaften aus der Urzeit
weiterfließen und ihre Empfänger erreichen: heute, morgen oder 2000 Leben später.”
Er schien meine wachsende Neugier zu bemerken, denn etwas milder lehrte er mich: “Wir dürfen mit dem Strom der Gedanken spielen. Wir können ihn umleiten, vorübergehend aufstauen, Bächlein abzwiegen, einen Eimer voll entnehmen oder auch nur einen Tropfen. Aber wie der Regen zurück in den Fluß und der Fluß in den See fließt, so muß auch der abgezweigte Gedanke zurück in den Strom, damit auch tausende von Leben später Bilder oder Geschichten und Gedichte entstehen können und vieles andere. Ja, das Leben selbst ist davon abhängig.”
Sprachs und hob seinen Finger noch etwas höher. In einer gewaltigen Entladung, begleitet von Blitz und Donner, schien etwas bläuliches aus der Wolke auf seinen Finger überzuspringen, wie flüssiges Metall an ihm hinabzugleiten, auf den Boden zu kullern, schließlich zu gefrieren und zu bersten. Aus dem bläulichen Tropfen, der am Ende die Größe eines Kindskopfes hatte, war ein braunes, rauhes, rissiges
Gebilde geworden, das sich dehnte, streckte, ausbeulte und schließlich aufstand und sich schüttelte. Ein häßlicher, zipfelbemützter, graubrauner Zwerg aus Fetzen, Zacken und Fransen ward daraus geworden, der sich sofort unverständlich schimpfend und grummelnd auf den Weg machte, den Berg hinab in Richtung Wald lief, immer schneller wurde und schließlich wie ein Ball davonrollte, ja zuletzt schien es, als würde er wie ein großer nun wieder blaugewordener Tropfen davonfließen.
“Gut!”, bemerkte der Druide. “Würden wir ihn aufhalten oder stören, gäbe es einen Mangel an Phantasiegestalten in der Zukunft. Mythologien bekämen Löcher. Geschichtenerzähler kämen ins Stocken. Bildhauer verfielen in Eintönigkeit. Es wäre unverantwortlich! Dieser kleine Wicht muß über die Zeiten immer wieder neu ins Leben hineingeboren werden, Gestalt annehmen. Würden wir diesen durch die Zeiten schwirrenden Gedanken aufhalten oder ins Nichts lenken, so wäre es aus mit ihm. Er könnte sich künftig nicht wieder materialisieren. Keine Wiedergeburt! Ein Verlust für alle Zeiten! Es wäre ein großes Verbrechen so etwas zu tun. Die Aufgabe der Druiden ist es, genau das zu verhindern. Uns ist es seit Jahrtausenden auferlegt, den Strom der Gedanken am Fließen zu halten. Das ist die wichtigste und nobelste unserer Aufgaben. Lerne das zuerst mein Schüler.”
Ich wußte damals noch nicht so recht was er meinte, spürte aber dennoch ein schwaches ungewisses Dämmerlicht in mir aufsteigen, gerade so wie ich es schon unzählige male auf der Jagd im Morgengrauen, am Ende der Nacht erlebt hatte.
Und wie die Tiere und Bäume im langsam heller werdenden Dunst des Morgens, so sollten auch in der vor mir liegenden Zeit, in den vielen noch vor mir liegenden Jahren, die wichtigen Dinge des Lebens klarer und schärfer werden, an Kontur gewinnen oder überhaupt erst sichtbar werden.
Der Druide schien das zu wissen. Er beendete seinen beeindruckenden Vortrag und ließ die Hand sinken. Mit grell zuckenden Blitzen und weiteren Donnerschlägen brach das Gewitter los. In strömendem Regen gingen wir wortlos nebeneinander ins Dorf zurück. Das Faszinosum neben mir hatte sich schon wieder verwandelt: die Schulter hingen nun vor, der weiße Mantel erschien nun wassergetränkt grau, die Haare an Kopf und Kinn klebten speckig auf der Haut wie bei einem nassen Hund. Neben mir ging nun kein übermächtiger Magier, sondern ein alter, keltischer Bauer.
Als der Müll noch nicht sortiert wurde
Genau 2514 Jahre später. Es war zu einer Zeit als der Müll noch nicht sortiert wurde. Wie alle Kinder spielte der kleine Albert gerne abseits der Häuser, draußen in der Natur oder besonders gerne auf Müllhalden.
Wie gesagt, es war zu einer Zeit, als der Müll noch nicht sortiert wurde. Es gab noch keine Müllverbrennungsanlagen, keine Müllpyrolyse, wie man die Anlage oder das Verschwelungsverfahren ohne Flamme später nannte. Der Müll war eigentlich noch gar kein so wichtiges Thema wie heute. Wichtig war eigentlich nur, daß man ihn aus dem Hause bekam, ihn irgendwo abliefern konnte. Immerhin das konnte man. Man konnte ihn in der städtischen Mülldeponie abliefern oder einmal wöchentlich abholen lassen. Aber daran hielt sich nicht jeder. So mancher Frevler warf seinen Unrat einfach in den Wald oder in eine der vielen verschilften, mit Teichrosen bewachsenen Altwässer der Günz – anstatt nach Recht und Gesetz geordnet in das städtischerseits dafür bestimmte Altwasser, wo alle den Müll gemeinsam hineinwarfen und auch der dieselbetriebene städtische Lastwagen, der wöchentlich die Tonnen leerte, seine Fracht abkippte.
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