Also panisch ein verwildertes ehemaliges Wochenendgrundstück in Richtung Bahngleis hinabgebraust, altes, braunes Gras, ein verborgener Graben, ein übler Sturz, zwei leicht Verletzte, die das Motorrad zurückließen und sich durch Gestrüpp, Altwasserschilf und Fluß vermeintlich unerkannt davonmachen konnten. Hätten sie den Eisenzwerg nicht schon im Park vom Motorrad gestoßen, so wäre er womöglich zum tödlichen Verhängnis geworden. So war er im Park einen
kastanienbeschatteten Hang hinabgekullert, an der Mauer einer alten Ruine gestoppt und von nachstürzendem vorjährigen Kastanienlaub, verschüttet und verborgen worden. Obwohl ihm auch diese Bleibe nicht schlecht gefallen hatte,
war er in der darauffolgenden Nacht aufgebrochen und in Alberts Garten zurückgekehrt. Die bösen Buben aber mußten sich mit Prellungen, Abschürfungen und einem gebrochenen Finger ins Krankenhaus in ärztliche Behandlung geben, sind dort verhaftet worden und stritten sowohl den Diebstahl als auch die Schwarzfahrt erfolgreich ab.
Doch nicht nur Albert las den Zeitungsbericht, eigentlich waren es zwei Artikel, von der Verfolgungsfahrt zweier jugendlicher Schwarzfahrer durch die Polizei und von einem gestohlenen 60-80cm großen antiken, eisernen Gartenzwerg, den er inzwischen wieder in seinem Besitz wußte. Einer der Väter der beiden jenischen Buben, ein kräftiger, schwarzhaariger Mann mit lederigem, pocken-, akne- oder sonstwie-narbigem, braunen Gesicht, dem man seine zigeunerverwandschaft, was bei den anderen Jenischen nicht der Fall war, nicht absprechen konnte, saß eben in Unterhemd und ölverschmierter blauer Hose auf einem alten Stuhl vor einem Haufen Schrott neben seiner Wellblechbehausung, neben sich eine Flasche Bier und einen Teil einer lokalen Zeitung auf dem wackeligen Tisch, den die untertänige Frau und die Tochter ins Freie hatten tragen müssen, und strich sich über seinen schmalen Oberlippenbart, dann über seine Stirn und seine schweißverklebten, fettigen Haare. Nicht alle seiner erwachsenen Mitbewohner seines Schrott-Ghettos konnten damals lesen. Er galt als gebildet und war entsprechend angesehen. Aber vielleicht trugen seine außerordentlichen Körperkräfte mehr zu seinem innergemeinschaftlichen Rang bei. Jedenfalls brauchte er diese des öfteren, um seine Frau, seinen Besitz, seine Ehre oder was auch immer zu verteidigen. Nichts blieb, kein Status hatte Anspruch auf Dauerhaftigkeit. Alles wollte ständig verteidigt und erobert werden, wie die wöchentliche Fuhre Schrott.
Da saß er also, dieser intelligente, bärenstarke Mann, strich sich durchs Haar und über den wachsenden Bauch, ließ die beiden Zeitungsartikel von der Verfolgungsjagd und dem geklauten Eisenzwerg auf sich einwirken, wobei vor allem der angegebene Wert von 8000 Mark besondere Aufmerksamkeit erregte und ließ von ganz tief unten aus seinem Bauch heraus, eine lauter werdende blechern scheppernde, tiefe, kratzige, versoffen klingende, rauhe Stimme zurückhaltend fordernd ertönen: „Leni! – Leni! Wo sin` die Buben?“
Die Buben waren – natürlich – nicht da. Nach dem Polizeiauftritt waren sie vermutlich nicht scharf darauf, vor das verschwitzte, lederige Angesicht ihres Vaters zu treten. So kehrten seine Gedanken wieder zu diesem eisernen Zwerg zurück, zu seinem kaputten Kreuz, dem 45 Jahre lang viele, zu viele, schwere Lasten zugemutet worden waren, zu seiner kärglichen Behausung, zu seinen sieben Kindern, die wie die sieben Zwerge täglich von ihm und seiner ehemals schneewittchengleichen, schönen Frau ernährt werden wollten. Sie war immer noch attraktiv, obgleich die sieben Kinder und die Lebensumstände Spuren hinterlassen hatten. Zu gerne hätte er dieses Milieu verlassen. Man konnte Jenischer sein, nicht alle bekannten sich damals dazu, aber man mußte nicht unbedingt leben wie ein Jenischer. Die alteingesessenen Kleinstadtbürger nannten Leute wie ihn abfällig „Wagges“. Woher das Wort auch immer kommen sollte, es hatte eine Wirkung wie „Nigger“ einem amerikanischen Schwarzen gegenüber. Es wurde, insbesondere einem starken Mann wie ihm gegenüber, selten offen ausgesprochen. Die Kinder jedoch, wollten nicht in die Schule gehen, weil sie von den anderen als „Wagges“ oder unzutreffend als „Zigeuner“, das war auch nicht viel angenehmer, gehänselt und diffamiert wurden. Das behaupteten sie jedenfalls und bleiben den Erziehungsanstalten gerne und oft fern. Er war überzeugt, daß das Wort „Wagges“ bei den „Bauern“, das waren alle anderen, eine alltägliche, selbstverständliche Bezeichnung für die Jenischen war. Mühsam unterdrückt oder diplomatisch vermieden in der Anwesenheit von ihresgleichen. Aber nicht immer. Dann gab es meistens viel Ärger. Schlägereien waren nicht selten, auch unter Jenischen selbst, oft wegen der Frauen. Tagelange Überlandfahrten brachten so einige Komplikationen mit sich. Er wollte sich von diesem jenischen Mob abheben, wollte andererseits aber auch die Anerkennung .
Er spürte ihren Neid, ihren ständigen Neid um seine Stärke, seine Lesekenntnisse, ihren unanständigen Neid um seine Frau, um seine Kinder. Wie lange wollte er das noch durchhalten? Wie lange wollte er noch mit seiner Körperkraft schweres altes Eisen herumheben. Er wurde älter.
Mit einem Anflug von Willensstärke fegte er die Zeitung beiseite, soff das Bier aus und machte sich über das gelagerte alte Eisen her. Er warf Fahrräder beiseite, schob Autofelgen weg, stemmte Achsen, zerrte an Kabeln und rüttelte an Autokarossen. Hatten die Burschen den Eisenzwerg flüchtig im ersten Schrotthaufen verstaut oder etwas raffinierter unter den alten Teppichen und dem Altpapier, an der geheimen Stelle, wo auch er immer die wertvolleren Buntmetalle verstaute. Aus der Lektüre der Artikel hatte er kombiniert was vorgefallen sein mußte. Natürlich fiel sein Verdacht sofort auf seine Jungens. Er wünschte es sich geradezu. Zugeben würde er es natürlich nie. Die Buben und klauen? Ein paar hinter die Löffel gäb es! Na ja, Schrottklauen war etwas anders, eher so was wie sammeln, Alteisen aufräumen, Unrat beseitigen, ein Dienst an der Umwelt und am Nächsten. Sicher war sein Nachwuchs sich über den Wert des Zwerges im Unklaren. Er hatte nach ihnen geschickt. Jetzt waren sie da. Sie sahen übel aus, vom Sturz. Dennoch mußten sie ihm die Stelle zeigen, wo sie den Zwerg abgeworfen hatten. Sie suchten, kombinierten das Wegrollen richtigerweise mit ein, suchten fieberhaft weiter, inzwischen die ganze Sippschaft, sie fanden nichts. Er nannte sie „Dinnallos“, wegen der Schwarzfahrt und dem „getschorten“ Zwerg, aber hatte Verständnis. Sie würden morgen bei Tageslicht, in aller Frühe, weitersuchen. So ein schweres Teil kann ja nicht weglaufen. Zwischenzeitlich konnte man sich schon mal um das Geschäft, um den Weiterverkauf kümmern. Die Jungs sollten schließlich was lernen, sollten die Sache mal selbst einfädeln. Da war doch immer dieser Verrückte Sammler, der alle paar Wochen vorbeikam, um im Schrott nach interessanten Antiquitäten, alten Kühlerfiguren, Gartendekoration, Zwergen usw. zu suchen ... ein Gedanke zündete ....
Der Eisenzwerg kehrt zurück
Jener Mann, der später die Polizei gerufen hatte, sammelte schon ziemlich lange Gartenzwerge und stellte viele von ihnen mitleidlos in seinem Garten in die pralle Sonne. Klar, daß sich unser Eisenzwerg da gar nicht wohl gefühlt hatte. Er mochte
es nicht besonders, im Freien zu stehen. Erstens hatte er keine gute Farblackierung ( die neue Lackierung war ja nicht komplett), die ihn vor dem Regenwasser hätte
schützen können und er haßte das Gefühl, wenn das Wasser an ihm herunterlief. Dann konnte er nämlich fühlen, ja spüren und sehen wie er rostete. Rost ist ein Problem für einen Eisenzwerg.
Der Eisenzwerg zog eine saure Miene. Es gefiel ihm nämlich gar nicht in dem Garten, in den man ihn wieder zurückgebracht hatte. Aber es war weit und breit
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