„Monika wird sich sicher für mich freuen“, dachte Susanne.
Denn mittlerweile wussten alle im Dorf, wie es um Susannes Familie stand.
Monika hörte ihrer Freundin zu, dachte nach und sagte dann:
„Weißt du, Susanne, ich verstehe Deinen Vater nicht. Mein Zuhause ist in Ordnung. Es kann ja mal vorkommen, dass man sich streitet. Aber wie bei Euch – man, das ist echt nicht mehr normal! Susanne, Du kannst immer zu uns kommen, haben meine Eltern gesagt. Mama sagte auch, so einen Mann wie Deinen Vater hätte ihre Schwester nicht verdient. Dann hat Mama geweint und Papa hat sie in den Arm genommen.“
Erst einmal tat sich aber gar nichts. Sie lebten von der Hand in den Mund. Es gab Salzgurken aufs Butterbrot, keine Margarine, keine Milch, nur Kranwasser. Nur der kleine Bruder bekam seinen Babybrei, was Susanne auch richtig fand.
Zu allem Unglück kam dann auch noch Tante Else mit Mann und Kindern zu Besuch. Hanna wusste nicht, was sie machen sollte, also log sie:
„Wir haben nichts im Haus. Ich muss erst einkaufen.“
Susannes Vater jammerte sich bei Onkel Freddy darüber aus, was für ein armer Mann er doch sei, den keiner lieben und verstehen würde.
Dem sonst so ruhigen Onkel Freddy platzte der Kragen.
„Wenn du nicht ständig saufen und regelmäßig deiner Arbeit nachgehen würdest, hättest du auch Geld für deine Familie und Hanna müsste nicht für dich lügen. Deine Tochter bräuchte dann auch nicht in dem kleinen Laden betteln gehen. Basta!“ Susannes Vater lief rot an und rastete völlig aus. Er wollte Mitleid! Auf eine Belehrung konnte er verzichten! Schon gar nicht von seinem Schwager, was bildete der sich eigentlich ein?
Unterdessen war Susanne tatsächlich einkaufen gegangen. Sie hatte mal wieder alten Menschen geholfen, um ein paar Mark erhalten, mit denen sie der Mutter helfen wollte. Ihre Mutter war mal wieder seit einiger Zeit nett zu ihr – aber sie fragte sich, wie lange noch.
Susanne brachte stolz ihren Einkauf nach Hause. Alle saßen da, außer ihr Vater.
„Wo hast du das her?“, fragte die Mutter traurig.
„Ich habe gespart und mein Geld versteckt. Und heute habe ich für uns eingekauft.“ Ihre Mutter sprang weinend auf und umarmte ihre Tochter.
„Weißt du, mein Mädchen, ich wollte dich nicht verletzen. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war.“
„Ach, Mama.“, antwortete Susanne. „Das ist schon vergessen.“
Tante Else, die daneben saß, fing auch an zu weinen. Onkel Freddy schaute kummervoll zu den dreien hinüber.
Monika war sehr still.
Abends luden Tante Else und Onkel Freddy Hanna, Susanne und den kleinen Peter zum Essen ein. Sie gingen in ein kleines Restaurant.
Heinz folgte ihnen heimlich und beobachtete das Szenario.
„Die fressen sich durch und ich soll nur noch arbeiten. Denen zeige ich es noch!“
Dann zog er eine kleine Flasche Schnaps aus seiner zerbeulten Hosentasche und wandte sich einem Feldweg zu.
Nach dem Essen, dass sie ausgiebig genossen haben, gingen Hanna und Susanne Arm in Arm, den Kinderwagen vor sich herschiebend, nach Hause.
Hanna drückte ihre Tochter an sich und meinte:
„Schätzchen, jetzt haben wir uns und es wird so bleiben. Ich habe nur Angst davor, was Dein Vater gerade wieder anstellt.“
Aber es passierte gar nichts.
Heinz war nicht zu Hause, als die drei ankamen. Aber das interessierte Susanne und ihre Mutter heute nicht mehr. An diesem Abend genossen sie einfach die Ruhe.
Drei Tage gingen vorbei und Heinz blieb spurlos verschwunden.
Hanna und Susanne konnten sich endlich entspannen, kümmerten sich liebevoll um das Baby und erledigten gemeinsam den Haushalt.
Am vierten Tag schlenderten Susanne und Monika laut singend nach der Schule zu ihren geheimen Platz an den Abgrund. Sie setzten sich auf ihre Bank, steiften ihre Schuhe ab und ihre Füße berührten den lauwarmen Boden.
Die beiden Mädchen sahen nun fast gleich aus. Monika hatte ihre Haare wachsen lassen. Beide hatten ihren Spaß daran, wegen ihrer Ähnlichkeit von den Leuten im Dorf angestarrt wurden.
Eine Lehrerin meinte: „Ihr beide seht aus wie Zwillinge.“
Und diese Tatsache wussten die beiden Mädchen schließlich auch einzusetzen...
Monika stand von der Bank auf , ging zum Abgrund und sah hinab.
Sie würde ja zu gerne mal da herunter klettern, dachte sie wieder.
Plötzlich erstarrte sie.
Dann rief sie aufgeregt:
„Susanne, komm schnell! Da unten liegt was!“
Aber Susanne wollte nicht aufstehen. Es war doch gerade so gemütlich.
Aber Monika schrie weiter.
„DAS musst Du sehen! Ich glaube, es ist...es ist dein Vater!“
Soll er doch krepieren, war Susannes erster Gedanke. Ihr Vater hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt!
Dann stand sie aber doch auf und sah in den Abgrund.
Neben einem Bach, neben dem Gestrüpp, lag eine Gestalt. Susanne konnte nicht erkennen, wer es war. Sie überlegte, ob sie einen Krankenwagen holen oder diese Gestalt dort liegen lassen sollte.
Aber wenn es nicht ihr Vater war, dann würde sie sich sicher schuldig machen, überlegte sie.
Sie drehte sich langsam zu Monika um.
„Komm, wir holen Hilfe.“
Es dauerte sehr lange, bis ein Krankenwagen kam, denn die Mädchen mussten erst den ganzen Weg ins Dorf zurück laufen und dann erst mal jemanden finden, der den Krankenwagen anrufen konnte.
Die herbeigerufenen Sanitäter kletterte den Abgrund herunter und die Mädchen sahen dabei zu. Susanne hoffte, das es ihr Vater sei. Das wäre ja dann mal was Gutes. Ein teuflisches Grinsen fuhr durch ihr Gesicht.
Der Mann wurde nach oben geholt. Susanne sah die verschmutzte Kleidung und dann das Gesicht.
„Scheiße!“, sagte sie laut. „Den bekommt keiner klein.“
Sie ließ die verdutzten Sanitäter stehen und wandte sich Monika zu.
„Monika, es ist mein Vater. Selbst der Teufel will ihn nicht!“
Dann prustete sie los und fing so laut an zu lachen, dass Monika eine Gänsehaut bekam.
Und plötzlich war Susanne verschwunden.
Sie war einfach gegangen. Wollte nicht mehr länger an diesem Ort sein.
Zu Hause angekommen merkte ihre Mutter sofort, dass etwas nicht stimmte und fragte sie, was denn los sei.
Susanne lachte wieder – dieses Mal höhnisch:
„Den Alten haben sie gerade aus einem Abhang hoch gezogen.“
„Was ist denn passiert? Lebt er noch?“
Susanne stand da und grinste.
„Antworte doch endlich!“
„Das weiß ich nicht. Bin einfach abgehauen. Hoffentlich verreckt er elendig wie eine Sau!“.
Das Telefon klingelte. Es war die Polizei und informierte Hanna, dass sie ihren Mann aufgelesen hatten.
Da Heinz ja inzwischen im Dorf bekannt war, wurde seitens der Polizeibeamten keine weiteren Fragen gestellt.
Susanne grinste immer noch und dachte
„Das ist ja einfach. Einfach weg und keine großen Fragen.“.
Susannes Vater wurde in ein Krankenhaus in eine andere Stadt gebracht. Er hatte zahlreiche Knochenbrüche und Prellungen, so dass er sich kaum bewegen konnte.
Das passte ihm gar nicht und er meckerte nur ungeduldig herum.
Einmal in der Woche bekam er Besuch von „seinen Lieben“ , die er nur beschimpfte und jedes Mal waren sie nur noch froh, wenn sie das Krankenhaus so schnell wie möglich wieder verlassen konnten.
Susanne veränderte sich in dieser Zeit.
Als Heinz nach einiger Zeit aus dem Krankenhaus entlassen wurde, holte ihn niemand ab. Er musste alleine nach Hause laufen. Zuhause angekommen setzte er sich erst ein mal hin. Susanne und ihre Mutter ließen ihn alleine dort sitzen.
Abends ging er in seine Kneipe und kam erst spät zurück. Wie immer. Aber er ging schnurstracks ins Bett, ohne ein Wort an seine Frau zu richten.
Читать дальше