Hanna erwiderte leise:
“Wenn dein Vater uns erwischt, dann nimmt er uns alles weg. Alles!“
Susanne hatte 5 Mark zusammenbekommen. Das war 1959 sehr viel Geld für die Familie und mit der heutigen Zeit im Wert nicht zu vergleichen.
Trotzig antwortete sie:
“Das Geld habe ich mir verdient! Das Geld gehört mir! Und nicht Papa.“
Susanne wurde richtig wütend und schimpfte laut:
“Dann soll er eben nicht so viel saufen.“
Zum ersten Mal sah die Mutter ihre Tochter staunend an. Aber Recht hatte das Kind ja, dachte Hanna.
Sie gingen also einkaufen. Sie lachten dabei und freuten sich so ausgelassen, dass sie auf dem Weg sogar zusammen sangen. Sie genossen jeden Schritt in der Freiheit, doch vorsichtshalber gingen sie dabei eine Strecke, die Heinz nicht kannte.
Und das war auch gut so, denn Heinz saß betrunken zu Hause und war auf Ärger aus. Wo er immer das Geld für seine Sauferei her hatte, wusste niemand.
Als Susanne und ihre Mutter vom Einkaufen zurück kamen, standen sie vor ihrem Haus und überlegten, was sie wegen der Lebensmittel sagen sollten, die sie in der Tasche trugen. Es war zwar nicht viel, was die beiden gekauft hatten. Nur Brot, Käse und etwas Wurst. Die Flasche Orangensaft hatten sie geschenkt bekommen.
Aber er würde es merken!
Da wurde plötzlich von innen die Tür aufgerissen.
Susannes Vater stand mit hochrotem Kopf wutschnaubend vor den beiden und begann sofort, sie vulgär zu beschimpfen:
„Ihr Miststücke! Ihr elendes Pack! Ihr seid unnötige Fresser bei mir.“
Mutter und Tochter zuckten bei diesen Worten zusammen und sagten wie aus einem Mund:
“Wir haben für uns alle Essen gekauft.“
Der Vater schaute die beiden verblüfft an, schrie aber dann direkt los:
“Wo habt Ihr, verdammt nochmal, das Geld her? Geklaut? Dann habt Ihr bestimmt auch Schnaps für mich dabei, oder?“
Gierig streckte er seine Hand aus und griff wie blind nach der Flasche.
Susannes Mutter sagte leise: “Das ist kein Schnaps. Wir haben Saft geschenkt bekommen.“
Innerlich bebte sie vor Angst vor ihrem aggressiven und gewaltbereiten Mann.
„Was kommt jetzt bloß auf uns zu?“, fragte sie sich.
Mit so einer schnellen Reaktion ihres betrunkenen Mannes hätte sie allerdings nicht gerechnet:
Er packte sie blitzschnell und brüllte los:
“Miststück, wo ist mein Schnaps? Wo hast du ihn versteckt? Ihr habt mich ja wohl nicht vergessen, oder?“
Erschrocken sah Susanne ihren Vater an. Er riss das kleine 11-jährige Mädchen an sich und trat ihr mit voller Wucht in den Bauch.
Susanne krümmte sich vor Schmerzen, verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinunter auf die kleinen Steinchen.
Sie schrie auf.
Dann wurde es still.
Hanna rannte die Treppe hinunter zu ihrer Tochter. Susanne lag blutüberströmt auf den Steinen, rang um Atem und flüsterte leise:
“Hilfe! Hilfe! Bitte helft mir doch.“
Aber es kam niemand vorbei, der dem Mädchen zur Hilfe eilen konnte.
Heinz sah sich das erbarmungsvolle Bild seiner Tochter an, drehte sich um und rannte weg. So einfach war das für ihn. Sein Gedanke galt nur dem Alkohol und der schnellen Beschaffung.
Er rannte in die Kneipe und jammerte, wie schwer er es doch habe und wie gemein und ungerecht seine Familie ihn behandele.
Alkoholiker sind Schauspieler, das weiß jeder. Aber dieses Szenario war wirklich bühnenreif.
Er erzählte so traurig seine Geschichte, dass der Wirt und seine Frau Mitleid mit dem „armen geschundenen Mann“ bekamen und ihm zum Trost auf ein paar Schnäpse einluden.
Unterdessen war Hanna damit beschäftigt, ihre Tochter zu verarzten. Sie holte das Verbandszeug und half dem Mädchen, so gut es ging. Aber zu ihrem Leid musste Hanna erkennen, das Susanne eine große, stark blutende Platzwunde am Kopf hatte und sie alleine damit überfordert war.
Hanna lief zu ihrer Nachbarin. Sie war ihre einzige Möglichkeit.
Sie bat die Nachbarin um Hilfe für ihre kleine Susanne. Aber sie wusste auch, dass sie damit alles verraten würde.
Jeder würde erfahren, dass Heinz brutal das Kind geschlagen hatte und würde erkennen, wie er wirklich war.
Doch das war Hanna in dem Augenblick egal.
Sie musste etwas tun! Sie brauchte Hilfe für Susanne – und die bekam sie auch.
Die Nachbarin handelte sofort und rief einen Krankenwagen, der Susanne abholte und in die Ambulanz brachte. Wegen ihrer Verletzungen musste Susanne eine Woche lang im Krankenhaus bleiben.
Sie hatte starke Kopfschmerzen, mehrere Prellungen und der Körper war mit Blutergüssen übersät.
Die behandelnden Ärzte fragten natürlich, wie das denn passiert sei, aber Hanna und ihre Tochter schwiegen.
Wie einfach wäre es gewesen, einfach das auszusprechen, was beide schon so lange im Herzen trugen:
„Er schlägt uns. Er prügelt uns. Er säuft und quält uns. Wir haben nichts zu Essen und jeden Tag große Angst, wenn er nach Hause kommt.“
Doch das trauten sich beide nicht. Sie schwiegen!
Und so verschlimmerte sich ihr Leben von da an immer mehr.
Niemand sah, was passierte.
Niemand sah oder wollte es sehen, was mit Susanne und ihrer Mutter war.
Eines Tages nahm ihre Mutter sie beiseite und erzählte ihr, dass sie schwanger sei und Susanne bald ein kleines Geschwisterchen bekommen würde.
„Dein Vater wird sich dadurch bestimmt ändern und lieb zu uns sein, Schätzchen. Jetzt wird alles besser.“
Doch das war ein großer Irrtum.
Heinz quälte seine Frau zwar nicht mehr, was ihm große Mühe bereitete, doch nun war Susanne sein neues Frontalopfer!
Susanne musste die Wohnung putzen, spülen und waschen, bekam kaum etwas zu Essen und wurde von Heinz noch mehr geschlagen und getreten als früher. Und immer wieder gab es Tage an denen sie nicht die Schule besuchen konnte.
Zu seiner schwangeren Frau dagegen säuselte er:
„Du brauchst jetzt Ruhe. Das blöde Weib wird 12 Jahre alt und kann ruhig mal etwas für dich machen.“
Er aber ging weiter in die Kneipe und betrank sich bis zum Umfallen.
Die Dorfbewohner sprachen über ihn und die Schwangerschaft seiner Frau und er versuchte, sich nicht hinreißen zu lassen.
Er versuchte, ruhig zu bleiben und wenn er auf die Verletzungen seiner Tochter angesprochen wurde, antwortete er so ruhig er konnte:
“So ein Unfall passiert schon mal.“
Susanne hatte kaum noch Zeit für sich und ihre Freundinnen. Wann immer sie konnte, besuchte sie die Schule, lernte, ging für ein paar Mark für die alten Leute im Dorf einkaufen, kümmerte sich um den Haushalt und ging für ihre Mutter einkaufen. Dabei hatte sie wenigstens etwas Ruhe vor ihrem Vater.
Jeden Abend fiel Susanne todmüde ins Bett.
Dann wurde ihr Bruder geboren. Er war ein süßes und gesundes Baby.
Alle kümmerten sich jetzt nur noch um den Kleinen.
Niemand schenkte Susanne Beachtung, die weiterhin alleine den ganzen Haushalt erledigen musste.
Doch das alles war zu viel für sie. Susanne dachte in ihrer Verzweiflung darüber nach, wegzulaufen.
Aber wohin? Raus aus dem Dorf konnte sie nicht. Dafür hatte sie kein Geld. Und das Geld, was ihr von den dankbaren alten Leuten in die Hand gedrückt wurde, wurde ihr doch immer wieder weggenommen.
Und die Mutter fing jetzt auch noch an, ständig nur noch mit ihr zu schimpfen:
„Wir brauchen das Geld für dein Brüderchen. Geh mal öfter für die Alten einkaufen oder geh putzen. Streng dich mal an.“
Susanne verstand ihre Mutter nicht mehr.
Was sollte sie denn noch alles machen, fragte sie sich. Und warum schimpfte sie nur noch mit ihr?
Wie immer ging sie abends todmüde ins Bett. Am nächsten Morgen musste sie vor der Schule den Tisch decken und anschließend alles spülen und die Küche aufräumen.
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