„Ist schon okay.“
Felix kam lärmend aus seinem Zimmer: „Warte auf mich! Ich muss nur noch grad ein Brot essen.“
„Ich warte in der Schule“, antwortete sie und ging.
Die Schule, ein altehrwürdiges Gebäude, die einzelnen Klassen müssen sich vor dem Unterricht in Gruppen auf dem Schulhof aufstellen. Freddy dachte, niemand kennt mich, so könnte ich auch ganz jemand anders sein.
Einige Schüler standen schon an dem Schild der 8b. Sie schwatzten miteinander; jeder, der hinzutrat, wurde laut begrüßt. Von ihr nahm niemand Notiz. Nur ein Junge, der stand auch allein dort. Ein dicker Junge mit roten Pausbäckchen. Er aß sein Butterbrot. Hat so ein ehrliches Gesicht; mit Sicherheit ist er derjenige in der Klasse, der an allem Schuld hat, egal was passiert. Und passiert nichts, ist er es auch Schuld. Jede Klasse hat so einen. „Muss man hier jeden Morgen stehen?“ fragte sie ihn.
Der Junge schaute auf: „Ja. Wir singen die Hymne und dann gehen wir in die Klassen.“ Er zeigte zum Flaggenmast, wo die Fahne der Republik schlaff herunterhing.
„Komische Sitten“, sagte sie.
„Seit zwei Jahren machen wir das so. Es soll der Disziplin dienen.“
„Wo ich herkomme, interessiert man sich nicht so sehr dafür.“
„Wo kommst du denn her?“ Der Junge schlang den Rest seines Brots hinunter, als würde er gleich verhungern.
Sie antwortete: „Aus New York.“
„Dann bist du ja Amerikanerin. Du klingst aber nicht so amerikanisch.“
„Meine Eltern sind Diplomaten.“
„Aber die Hauptstadt ist doch Washington. In New York gibt es keine Botschaften.“
„Was du nicht alles weißt! Sie waren bei der UN.“
„Aber in Amerika, ist da der Fahnenappell nicht üblich?“
„Du weißt ja gut Bescheid. Warst du schon mal in Amerika?“
„Muss ich nicht. Ich hol mir die Welt ins Haus.“
„Macht ja jeder.“
„Und wieso bist du jetzt hier?“
„Meine Eltern vertreten seit Neuestem unser Land in Afghanistan. Das ist zu gefährlich für mich, sagen sie. Deshalb muss ich jetzt hier bei meiner Tante leben. Wie heißt du denn eigentlich?“
„Afghanistan. Da möcht ich auch mal hin.“
„Ist sehr heiß dort. In jeder Beziehung. Und, wie heißt du?“
„Daniel. Du kannst mich aber auch Danny nennen. Und du?“
„Freddy. Nur Freddy.“
„Okay, Freddy. Gleich ist es soweit.“
Inzwischen standen rund zwanzig Schüler an dem Schild. Die Jungs gegelt, die Mädchen bemalt, mit Phone und Schmuck, gepierct, gezackt, getan; genau wie dort, wo sie herkommt. Felix kam angerannt, gerade bevor die Lehrerin sich vor der Klasse aufstellte. Die Schüler standen in Fünferreihen, wie bei der Armee.
Der Direktor erschien und sprach etwas. Danach richteten sich die Blicke auf die Flagge, und über Lautsprecher wurde die Hymne gespielt. Man sang oder tat so, und am Ende ging jede Klasse ihrem Lehrer hinterher. „Das war jetzt alles?“ fragte Freddy.
„Hast du mehr erwartet? Wir sind ja nicht in Amerika.“
„Sollen wir uns nebeneinander setzen?“ fragte Freddy.
Er sah sie erstaunt an, dann lächelte er: „Ja, gerne! Ich möchte allerdings vorne sitzen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Das ist mir egal.“
Die Klasse hatte eine neue Lehrerin bekommen, eine Frau mit strenger Frisur und hohem Busen. Sie sagte: „Ich bin Frau Johanson. Falls mich jemand noch nicht kennt.“
In der letzten Reihe wurde gekichert. Frau Johanson schaute scharf dorthin, augenblicklich verstummten die Schüler. Sie sagte: „Falls mich jemand noch nicht kennt: Es gibt exakt eine Aufforderung. Beim zweiten Mal bekommt derjenige eine Menge Arbeit: Toiletten, Hof, Küche. Damit wir uns gleich richtig verstehen!“
Sie nahm die Anwesenheitsliste von ihrem Pult. Jeder musste aufstehen, wenn sein Name genannt wurde. Danny neben ihr hieß wie die Lehrerin: Johanson.
„Frederike Zazo.“ Sie war die Letzte auf der Liste. In dieser Klasse würde sie bei allem die Letzte sein. Sie stand auf: „Sie können mich Freddy nennen.“
„Du bist neu hier.“ Frau Johanson wandte sich an die anderen: „Wer erklärt Freddy die Regeln in der Schule?“
Niemand meldete sich. „Dann tu du es“, forderte sie Danny auf.
Er begann: „Gebot 1: Du sollst Ordnung halten. Gebot 2: Du sollst Streitigkeiten friedlich beilegen.“ So ging das fort bis Gebot 10: Du sollst keinen Kaugummi unter die Tische kleben.
Als Danny fertig war, verteilte die Lehrerin die Liste für die Materialien, die sich jeder im Geschäft zu besorgen hatte. Bei Frau Johanson würden sie Geschichte und Englisch haben. „Sind noch Fragen? Good. Let`s start the lesson. Who wants to tell us about her or his holiday?“
Nach dem Unterricht ging Freddy ein Stück mit Danny. „Bist du verwandt mit Frau Johanson?“ fragte sie.
„Gewissermaßen. Sie ist meine Mutter.“
„Da hast du`s ja gut.“
„Kann man nicht so sagen.“ Er erklärte ihr, dass er im Zweifelsfall immer die schlechtere Note bekommt. „Sie will sich keinem Verdacht aussetzen.“
„Ich verstehe.“
„Und außerdem kann ich ihr keine Geschichten erzählen. Sie kennt immer schon die volle Wahrheit.“
Sie fragte, wieso die Schule die Schüler disziplinieren wolle, wo doch bestimmt alles friedlich sei hier auf dem Land.
„Es hat Fälle von Vandalismus gegeben.“
„Was denn?“
„Was man so kennt: Graffitis, zerkratzte Autos, brennende Papierkörbe. Nichts Besonderes.“
„Da kenn ich wirklich anderes“, sagte Freddy; was nicht stimmte; in Wirklichkeit kannte sie das auch nur von YouTube: Brennende Häuser, brennende Städte, brennende Menschen.
„Die Disziplinierung ist lächerlich“, sagte Danny, „solange die Herrschenden nicht bereit sind, Verstöße zu sanktionieren. Nur dann werden sich solche Formalia durchsetzen lassen.“
„Wie meinst du?“
„Na ja, die Lehrer müssten schon den Rohrstock schwingen. Dann würden wir ganz andächtig auch der langweiligsten Zeremonie folgen. Wie es früher mal war.“
Freddy dachte: Von diesem Jungen kann ich noch was lernen.
Selbstverständlich fährt Suse ab sofort mit dem Auto zur Schule. Selbstverständlich nimmt sie ihren kleinen Bruder nicht mit.
Es war keine weite Strecke, fünf Minuten. Als sie an der Schule vorfuhr, waren schon alle Parkplätze belegt. Sie schaute zum Hof, aber niemand beachtete sie. Soll ich mal hupen?
Die Schelle ertönte, zehn Minuten bis zum Unterricht. Suse fuhr einmal um den Block. Kein Parkplatz, noch fünf Minuten. Eine weitere Runde, endlich fuhr jemand weg. Noch eine Minute! Sie musste 300 Meter im Sprint zurücklegen. Außer Atem erreichte sie den Schulhof.
Der Direktor war schon auf dem Posten und hielt alle Klassen im Visier. Kurz traf sein stechender Blick Suse, dann begann er mit seiner Rede. Das Übliche: Pflichten, Hürden, Leistung– schon tausendmal gehört. Darauf die Hymne. Sie schielte zur Parallelklasse. Jakob stand in der Mitte, er sang mit– in seiner Klasse sind ja all die braven Schüler.
Später im Klassenraum: „Frau Suse, wie oft muss ich Sie noch auffordern mitzusingen?“ Wenn der Lehrer schlechte Laune hat, redet er sie immer so an.
„Herr Matuscheck“, antwortete sie, „ich bin jetzt volljährig und muss nicht mehr mitsingen.“
„Ich möchte Sie an die Schulordnung erinnern. Die gilt auch für Sie.“
„Aber die Sache mit der Hymne dient doch nur zur Disziplinierung der Kleinen.“
„Reden Sie nicht so einen Unsinn! Wenn Sie so freundlich wären, wie die anderen, wenigstens so zu tun als ob.“ Der Lehrer hielt ihrem Blick stand. Da sagte sie: „Na gut, weil Sie es sind.“
Früher, dachte Herr Matuscheck, früher holten die Lehrer bei solch renitenten Schülern schon mal die Rute heraus; war aber auch nicht besser, damals. „Nehmen Sie bitte die Bücher und schlagen Sie auf Seite sieben auf.“
Читать дальше