Ralph überlegte, ob es nicht besser wäre umzukehren. Da entdeckte ihn Haraldson und winkte ihn herbei: „Kommen Sie doch!“
Ralph beeilte sich nicht. Noch bevor er die Männer erreichte, hatte Haraldson ein Bier für ihn geöffnet und streckte es ihm entgegen. „Schön, dass sie gekommen sind. Wir können jede Unterstützung gebrauchen.“
„Fürs Bier?“ fragte Ralph und deutete zum Kasten.
Haraldson lachte: „Das schaffen wir schon alleine. Prost.“ Er stieß seine Flasche an Ralphs und nahm einen kräftigen Schluck. Ralph trank kurz. „Haben die sich schon blicken lassen?“ Er deutete zum Haus.
„Nein, ist immer dicht.“
„Ist überhaupt jemand da?“
Haraldson zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: „Aber darum geht`s ja gar nicht. Wir wollen ein Zeichen setzen!“
Wofür? – Ralph sagte aber: „Das ist wohl wichtig.“
„Ja, dass so einer“, und dann wiederholte Haraldson die ganze Geschichte über Kaczek, die Ralph kannte, so gut wie jeder andere in Sabel. Alles war damals, vor fünfzehn Jahren, wochenlang in der Zeitung ausgebreitet worden. Ralph nickte ein paar Mal, irgendwann hatte Haraldson alles erzählt, und als er nach einer Pause begann, die Geschichte erneut vorzutragen, trank Ralph den letzten Schluck aus seiner Flasche und sagte einfach mitten hinein in die Rede: „Danke fürs Bier. Ich muss dann mal.“ Er hielt Haraldson die Hand hin.
„Schade, ich hätte Ihnen noch so viel erzählen können. Na ja, kommen Sie doch bald noch mal vorbei.“
„Werd ich.“ Ralph wandte sich zuerst in die Richtung, aus der er kam. Als die Männer ihn nicht mehr sehen konnten, bog er ab und ging weg von zu Hause, ohne Ziel. Niemand war mehr auf der Straße, hinter den verschlossenen Gardinen der Häuser wechselte das Licht, manchmal im Takt, manchmal abrupt; die Leute sind am fernsehen, und ich? Alles läuft in der Spur, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, und am Ende sind wir tot. Er spürte, wie ihm der Gedanke den Atem nahm. Er packte den Schlüsselbund in seiner Manteltasche. Als er ihn herauszog, eine Schlüsselspitze zwischen den Fingern, ging er ganz nah an den parkenden Autos vorbei; so nah, dass die Spitze den Lack zerkratzte. Es gab ein hässliches Geräusch. Seltsam genug löste sich da der Krampf in seinem Kopf. Er fühlte die Erschöpfung, wie nach Sex. Auch die Ernüchterung danach.
Er kratzte an fünf oder sechs Autos entlang, dann ließ er den Schlüssel wieder in die Manteltasche fallen. Ein Gedanke erschreckte ihn: Hatte das Mädchen letztens nicht doch bemerkt, was er da tat? Wie war noch gleich ihr Name? Er spürte, dass eine Sehnsucht in ihm steckt, genau wie damals, da war er so alt wie dieses Mädchen heute; und wie sehr hatte er sich damals ein Mädchen erträumt! Auf dem Schulhof hatte es eins gegeben, Tanja war ihr Name; er hatte sie nie angesprochen. FREDDY. Ja, das ist ihr Name; immer wieder musste er an das Mädchen denken; bin ich etwa verliebt?! In eine 13jährige? Ich bin doch nicht so einer wie dieser Kaczek, auf den jetzt Haraldson aufpassen muss!
Ralphs Hand war verschwitzt von all diesen Gedanken. Er ging schneller, merkte gar nicht, wohin. Er war am Stadion angelangt. Der große Platz lag im Dunkeln. Bei Sportveranstaltungen wird der Platz von vier großen Masten beleuchtet. Am Rand erkannte er das Wohnmobil, das er vor ein paar Tagen hierhin fahren sah. Eine Laterne brannte auf dem Tisch. Ein Mann saß dort und las. Es war aber zu weit weg, um Genaueres zu erkennen. Dass es Fremde überhaupt hierhin verschlägt.
Er versuchte, seine Gedanken auf Banales zu lenken; zum Beispiel auf die Gründe, die Touristen dazu verleiten könnten, länger als eine Nacht in Sabel zu bleiben: Sehenswürdigkeiten? Die Neugier zu erfahren, welch seltsame Wesen in dieser abgeschiedenen Gegend leben? Wird Sabel überhaupt in irgendeinem Reiseführer erwähnt? Nicht dass ihn die Antworten auf diese Frage sonderlich interessiert hätten, aber es war eine Methode, nicht länger an Freddy zu denken.
Als seine Gedanken sich beruhigt hatten, ging er nach Hause und schlüpfte neben seine Frau ins Bett.
Die Schule. Die Ödnis. Das Kaff! Am Nachmittag war es heiß wie im Juli. Suse fuhr durch Sabels Straßen. Nachdem sie die Kumpels von der Schule nach Hause gebracht hatte, war sie wieder allein. Sie hatte kein bestimmtes Ziel; tut es doch gut, einfach zu fahren. Sie bog zum Stadion ab und fuhr einige Runden über den staubigen Parkplatz. Sie war dort alleine, bis auf einen Lastwagen. STADION, wie lächerlich! Man nehme einen Ascheplatz, setze links und rechts zwei Tore, errichte ein Holzgestell als Tribüne; dann noch ein Schild, wo drauf steht STADION, und fertig. So geschieht es mit allem in diesem Kaff: MÖCHTEGROß.
Sie stellte den Motor aus. Der Staub legte sich. Am Rand des Platzes stand ein Baum, darunter der Lastwagen. Er war als Wohnmobil ausgebaut. Längs war eine Markise angebracht. Dort stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Ein Mann saß da und schaute zu den Bergen.
Sie zündete sich eine Zigarette an und wartete. In einem Wohnmobil– normalerweise fahren da doch nur alte, schwabbelige Leute mit durch die Gegend; denken ALS WIR NOCH JUNG WAREN! und versuchen vergeblich, dies Gefühl von damals zu reanimieren.
Dieser Mann war aber nicht so alt. Suse nahm ihr Phone und zoomte ihn mit der Kamera heran. Er war braungebrannt, sein Oberkörper nackt, nicht zu behaart, nicht zu muskulös, aber auch nicht zu wenig. Er schaute immer noch zu den Bergen und griff wie nebenbei zur Kamera auf dem Tisch; nicht so ein Allzweckgerät wie ihres, sondern eine richtige Kamera mit langem Objektiv; eine Kamera, die man sich noch fest ans Gesicht pressen muss. Die richtete er auf die Berge. Plötzlich schwenkte er sie um 90 Grad und zielte genau auf sie in ihrem Auto!
Was fotografiert der mich? Sie könnte es ignorieren. Sie könnte verschwinden. Ich hasse das! Sie startete den Motor, gab Vollgas und fuhr in einem großen Bogen bis zu dem Baum, wo sie mit einer Vollbremsung zum Stehen kam. Als der Staub sich gelegt hatte, hing der Mann immer noch tief in seinem Stuhl, nur ein Handtuch hatte er zum Schutz über seine Kamera getan. Sie sah ihn an, er sah sie an. Schließlich sagte er: „Und? Was wolltest du jetzt damit beweisen?“
„Lösch das Foto!“
„Geht nicht.“
„Muss ich erst aussteigen?!“
„Ich prügel mich nicht.“
Sie stieg aus, die Kippe knapp an der Handfläche zwischen den Fingern.
„Nicht mal mit Männern“, fügte er hinzu.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und noch einen, hielt ihn dabei fest im Blick; sie fühlt sich stark.
Er richtete sich in seinem Stuhl auf: „Was ist? High Noon, oder was? Ich habe keinen Revolver.“
„Du löschst jetzt das Foto!“
„Geht nicht. Ich fotografier noch analog.“
„Verarschen kann ich mich selbst.“
„Ja, davon kennt ihr jungen Leute heute nix mehr. Zelluloid. Man muss es entwickeln. Alles Handarbeit.“
„Alter Mann, dann gib mir dein Zelluloid!“
Er hob einen großen Schraubenschlüssel vom Boden, ohne dabei aufzustehen, aber auch ohne seinen Blick von ihr zu nehmen, und legte ihn auf den Tisch neben seine Kamera, griffbereit. „Wenn du du den Film haben willst, musst du ihn dir holen.“
Sie warf die Kippe weg und machte sich bereit.
„Vorschlag“, sagte der Mann. „Ich entwickle den Film und zeig dir die Bilder. Gefallen sie dir nicht, kannst du die Negative haben.“
Sie blieb stehen. „Und dann ist alles weg?“
„Ja, Cowboy.“
„Nenn mich nicht Cowboy!“
„Du kannst sie dann verbrennen, wenn du willst.“
„Das werd ich auch, ganz bestimmt.“
„Magst du keine Fotos von dir?“
„Du hast es erfasst!“
„Na, wirst sehn. Ich bin sicher, dass du dir darauf gefallen wirst.“
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