Moms stark gestikulierende Arme sausten haarscharf an Dads Kopf vorbei. Fast hätte sie ihn getroffen.
»Nun ist aber gut, Anna Maria. Beruhige dich bitte.«
Dad ließ die Straße zu keiner Zeit aus den Augen. Er schaute stur geradeaus, ohne Mom eines Blickes zu würdigen.
»Ich soll mich beruhigen? Nicht bei dieser Person.«
»Ich glaube, sie würde sich in unserer Wohnung sehr gut zurechtfinden«, gab ich meinen Senf ungefragt dazu und streute ein wenig Salz in Moms Wunde. Ihr Gesichtsausdruck hätte man aufnehmen sollen – sie war nun der Teufel in Person.
Daraufhin redete sie sich noch mehr in Rage. Dad schaltete nach einer Weile ab. Nur sein Kopf nickte wie ein Wackeldackel, der bei uns auf der Hutablage des Autos seinen Platz gefunden hatte. Bis es ihm doch zu viel wurde.
»Jetzt ist aber mal Schluss. Ich kann es nicht mehr ertragen. Wenn du nicht umgehend damit aufhörst, Anna Maria, fahre ich auf der Stelle wieder zurück. Mir reicht’s. Ich habe Urlaub und möchte mich ein wenig erholen.«
Mom schaute Dad verdutzt an und bekam den Mund nicht zu. Sie konnte es nicht glauben, Dad hatte sie tatsächlich in die Schranken gewiesen. Selbst ich war überrascht. Ob das allerdings eine gute Idee gewesen war, bezweifelte ich. Vom Donnerwetter überwältigt, guckte Mom ab jetzt starr nach vorne und schwieg. Aber mal ehrlich, sie konnte einen mit ihrem vorlauten Mundwerk wirklich bis zur Weißglut bringen. Und, bis Dad etwas sagte, musste schon viel, sehr viel passieren. Mom war glatt die Spucke weggeblieben und hielt endlich die Klappe. Schweigend fuhren wir weiter in Richtung Urlaub. Und ich verlor mich in meinen Gedanken.
Wie jedes Jahr freuten wir uns auf den Urlaub innerhalb der Sommerferien. Sorry, meine Eltern freuten sich darauf. Urlaub in Italien. Okay, ich musste zugeben, als ich noch kleiner war, fand ich es auch großartig, mit meinen Eltern zu verreisen. Bis auf die ellenlangen Fahrten mit dem Auto, die megalangweilig waren. Ansonsten fand ich den gemeinsamen Urlaub schön. Allerdings war es in diesem Jahr anders. Ich hatte mich verliebt. Nicht etwa in eine Boygroup. Nein, es war ein Junge aus meiner Schule. Sein Name klang wie Musik. Ich hatte mich in Ronny verschossen. Er war der heißeste Typ der ganzen Schule.
Und das Dumme dabei war, dass ich Ronny für eine ganze Weile nicht sehen würde. Drei Wochen ohne ihn, das würde die grausamste Zeit meines Lebens werden. Wenn wir nach acht Tagen wieder zu Hause fuhren, wäre Ronny mit seiner Familie schon einen Tag unterwegs für seinen Urlaub in Bulgarien. Für genau zwölf Tage. Wie sollte ich das bloß ohne ihn aushalten? Ich musste ständig an ihn denken und mein Herz freute sich schon auf das Wiedersehen. Seine braunen Augen, das Zahnpasta Lächeln, seine vollen Lippen und sein Grübchen am Kinn, machten ihn zuckersüß. Ich musste nur aufpassen, dass meine Eltern es nicht erfuhren. Sie würden einen Freund nicht dulden. Scheiße, sie waren so konservativ. Wenn sie wüssten, dass wir genau drei Tage vor unserer Abreise das erste Mal geknutscht haben, würden sie ausflippen. Und, wenn die anderen Mädels meiner Schule mitbekommen, dass ich und Ronny zusammen waren, würden die Schnepfen vor Neid platzen. Alle wollten mit ihm gehen und ich hatte das große Los gezogen.
Aber der erste Kuss war so ... scheiße! Voll ekelhaft! Ronny schob mir mit seiner Zunge irgendwelche Krümel in den Rachen. Nüsse oder so ein Zeug. Dabei hatte ich eine Nussallergie und mir schwollen sofort die Lippen an. Ich bekam Atemnot und fing an zu sabbern. Na ja, das konnte Ronny nicht wissen. Ansonsten war es schon aufregend, zumal es mein erster Freund war und ich wusste, dass er es sein wird, an den ich meine Unschuld verlieren wollte. Noch in diesen Sommerferien sollte es passieren. Ich war fest entschlossen, denn er sollte derjenige welcher sein.
Unsere erste Begegnung war nicht allzu lange her. Ich hatte ihn schon des Öfteren auf dem Schulhof gesehen, aber er mich nicht. Und miteinander geredet hatten wir vorher auch nicht. Doch vor zehn Tagen war alles anders. Es war der Nachmittag unseres letzten Schultages und der Beginn unserer Ferien. Ronny war mit ein paar Jungs am See gewesen, als ich mit meinen Freundinnen dazu kam. Sie hatten dort einen liegenden Schwimmbagger gekapert. Seit mehreren Monaten war der Bagger nicht mehr in Betrieb. Wahrscheinlich war er defekt und der Schaden zu groß, um schnell repariert zu werden. Nun diente er als Sprungturm. Es war das perfekte Badewetter und alle tummelten sich im Wasser. Nur ich nicht. Ich lag auf der angrenzenden Wiese und sonnte mich. Ich machte es mir auf meinem Handtuch bequem. Zuvor hatte ich mich selbstverständlich mit Sonnenschutz eingerieben. Und das Ganze sorgfältig, darauf legte Mom sehr viel wert. Gelangweilt beobachtete ich die Schäfchenwolken. Wie sie wohl entstehen, fragte ich mich. In manchen Wolkenformationen konnte ich Figuren erkennen. Nur einmal auf solch einer Wolke schweben, das wäre cool, war mein letzter Gedanke, als ich unerwartet aus meiner Verträumtheit gerissen wurde. Anfänglich dachte ich, dass eine größere Wolke den Himmel zu verdunkeln schien und einen Schatten auf mein Gesicht warf. Ich erkannte aber schnell den Irrtum. Eine selbst in Schatten gehüllte Silhouette stand plötzlich vor mir. Es war Ronny, der mir die Sonne nahm. Er fragte mich, ob alles gut sei und ich nicht Lust hätte, mit ins Wasser zu kommen. Dass es mir meine Eltern verboten hatten, im Baggersee zu baden, wollte ich ihm nicht sagen. Es war mir zu peinlich.
Meine Eltern hielten es für zu gefährlich. Sie hatten Angst, dass ich ertrinken könnte. Es war schon einige Jahre her, als zwei Personen im See ums Leben gekommen waren. Und es waren keinesfalls alte Leute oder Babys. Nein, im Gegenteil. Es waren alles gute Schwimmer. Vermutlich gab es am Grund des Sees irgendwelche Strudel oder Hohlräume, die eine plötzliche Erdsenkung herbeiführten und somit einen Sog erzeugten, der sehr gefährlich war. Ich durfte nur dort baden, wo auch Rettungsschwimmer die Badegäste beaufsichtigten. Also erfand ich eine unglaubwürdige Notlüge, die Ronny mir abkaufte.
»Aber wenn du Lust hast, lade mich doch zum Eisessen ein«, sagte ich frech.
Kaum ausgesprochen blieb mir die Luft weg . Verdammt, was war los mit dir, Denise? Ermahnte ich mich selbst. Hatte ich das tatsächlich gesagt. Oh, wie peinlich. Du hast ihn gerade angebaggert. Mein Mundwerk war wieder einmal schneller als mein Verstand. Das passierte mir in letzter Zeit öfter. Was gar nicht meine Art war. Noch vor einem Jahr wäre mir das nie passiert. Ich wäre schon im Erdboden versunken, wenn er mich nur angelächelt hätte. Da musste ich jetzt durch und einen Korb kassieren. Aber nein, stattdessen stotterte Ronny umher und war alles andere als selbstbewusst. Dass ihn ein Mädchen anmacht, damit hatte er nicht gerechnet. Und ich am allerwenigsten. Dann aber, kam ein Kurzes und Knackiges:
»Okay.«
Hatte ich mich gerade verhört oder sagte er »Okay«? Das konnte nicht sein. Der, Ronny Schönfeld, lud mich zum Eisessen ein? Nein, nicht er. Warum sollte er? Oder hatte er »Oh je« gesagt? Ich war mir unsicher. Was machte ich jetzt ? Ich dachte nach. Ich konnte ihn schlecht darum bitten, sich zu wiederholen. Ich war in einer Zwickmühle. Jetzt aufzustehen wäre blöd. Also blieb ich liegen und sagte nichts.
»Jungs, ich bin kurz weg«, rief er den anderen zu.
Wahrscheinlich war ich ziemlich rot angelaufen, als ich die erhoffte Bestätigung bekam. Ups! Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ein wenig nervös war.
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