In praktischer Hinsicht ist es besser von einer Koexistenz verschiedener Wirtschaftsformen und mit ihnen korrespondierender geistig-kultureller Phänomeme im Geschichtsprozess auszugehen. Daher lösen wir uns an dieser Stelle von vorab formulierten Kriterien und verzichten auch darauf, historische Strukturen vorschnell in komplexe strukturelle Hierarchien oder andere Ordnungsmuster zu pressen. Richten wir unseren Blick zunächst einmal einfach auf die offensichtlichen Naturprozesse, die allem geschichtlichen Handeln und aller geistigen Entwicklung zugrunde liegen. Wählen wir als Leitmotiv unserer Betrachtung das Bild eines stabilen ökologischen Systems, einer Nische, in der sich das Leben Schritt für Schritt entfaltet, wie Harrison Brown[121] es einmal knapp und präzise beschrieben hat:
„Zu aller Zeit füllen sich alle nur möglichen Nischenräume mit Leben. Und das Leben innerhalb jeder Nische steht in Verbindung zu den anderen lebenden Kräften, die es umgeben (...) Ein solches System kann auch einer Vielfalt von Pflanzenleben, Bakterien, Insekten, Fischen, Amphibien, Reptilien und Säugetieren umfassen, die alle in Harmonie leben. Solche Systeme sind gewöhnlich recht stabil und können für lange Zeiträume existieren; wird jedoch nur einer der zusammengesetzten Bestandteile nennenswert beeinträchtigt, werden alle anderen ebenfalls berührt. ”
Der Mensch, als Kreatur, die unerbittlich angetrieben wird, über ihre animalischen Bedürfnisse hinaus zu wirken, entstand im langen Lauf der Evolution in solchen Nischen. Um die materielle Reproduktion seines Lebens zu sichern, ist er gezwungen, am Stoffwechsel der ökologischen Systeme teilzunehmen, in denen er lebt. Dabei steht es dem Mensch frei, seine Beziehungen zur ökologischen Nische auf zwei grundsätzlich entgegengesetzte Weisen zu gestalten: Zum einen kann er sich in die Diversität und das Gleichgewicht seiner Nische einfügen und zum anderen kann er versuchen, die Nische zu dominieren und zu erweitern. Schon sehr früh haben die Menschen sich entschieden, das Äquilibriums-Modell des Einfügens in das Gleichgewicht des ökologischen Lebensraumes aufzugeben und sich zugleich den Opportunitätsträumen verschrieben, die auf Eroberung und Besiedelung neuen Lebensraumes zielen.[122] Durch die Strategie der Nischendominanz und Nischenexpansion wird die vormals dominierende Selbststeuerung der Natur zurückgedrängt. Gleichzeitig wird die Komplexität und Vielfalt natürlicher Ökosysteme vermindert. So haben zum Beispiel menschliche Jagdaktivitäten die Mammuts ausgerottet, obwohl die frühen Jagdgesellschaften sich sonst durchaus an das Gleichgewicht der umgebenden Naturräume anzupassen versuchten. Ebenso haben bereits frühe Ackerbaukulturen durch rücksichtslose Brandrodung, Überweidung und Monokultur die Komplexität natürlicher Ökosysteme verringert und höhere Erosionsraten verursacht, als in der Natur durch Steppenbrände, Stürme oder Überbevölkerung vorkommen.[123] Trotz dieser Schäden war die Strategie der Nischenexpansion erfolgreich im Sinne der Erweiterung menschlicher Lebensmöglichkeiten. Immer größere Teile der Energieströme der Umwelt wurden durch den Menschen kontrolliert.
Unter der Vielzahl der maßgeblichen Faktoren, wollen wir unseren Blick auf die Umgestaltungen der Energie richten, die den unterschiedlichen ökologischen Strategien als unerlässliche Entwicklungsvoraussetzung zugrunde liegen. Energie soll hier also als der gemeinsame Nenner bei der Untersuchung historischer Formen nachhaltiger Wirtschaft dienen. Alle Verhaltensmuster, alle Abläufe, ob von Menschen, Tieren oder Pflanzen, ob von Kometen oder Molekülen, können als Manifestationen von Energie gesehen werden. Auch nicht-energetische Größen wie Wissen oder genetische Information stehen in Beziehung zur Anwendung und Transformation von Energie; so ist auch die Entfaltung von Wissen, wie die Fähigkeit der Erbinformation einen komplexen Organismus zu konstruieren, von der Zufuhr von Energie abhängig. Energie tritt in verschiedenen Formen und Zuständen auf. Alles Leben basiert letztlich auf dem Strom solarer Energie, den die Erde von der Sonne empfängt. Er bildet die Grundlage pflanzlichen Wachstums und darauf basierend, des tierischen und menschlichen Lebens. Alle gespeicherten Energiereservoire wie Kohle, Holz und Erdöl sind letztlich solaren Ursprungs. In der Frühzeit basiert die menschliche Aktivität hauptsächlich auf solarer Energie.[124] Durch die Arbeit und die Entwicklung der Sprache, einhergehend mit dem Aufbau einer leistungsfähigen Neokortex (gutes Gedächtnisvermögen und analytische Fähigkeiten) und einer die Gehirnleistung stärkenden und absichernden Sozialorganisation, lernen die Menschen immer erfolgreicher, in ihrer ökologischen Nische zu überleben. Durch die Beherrschung des Feuers wird eine neue und mächtige Energiequelle erschlossen, die den Handlungsbereich der menschlichen Spezies gewaltig erweitert.
Leslie White hat versucht, die kulturelle Entwicklung in direkte Verbindung zur Menge der von Menschen in einer gegebenen Zeit transformierten Energie zu bringen. Kulturelle Entwicklung ist nach Whites Ansicht durch die Menge der drei Variablen a) der transformierten Energie, b) der technologischen Instrumente der Energieumwandlung und c) des Größenverhältnisses der dabei zustande gekommenen Produkte zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse formelmäßig bestimmbar. Diese Gleichsetzung von kulturellem Fortschritt mit höherer Energieausnutzung ist jedoch sehr fraglich, denn diesem Ansatz liegt ein Kulturbegriff zugrunde, bei dem ethische und spirituelle Momente offensichtlich überhaupt keine Rolle spielen. Ist die amerikanische Kultur höher entwickelt als zum Beispiel die tibetische, bloß weil sie über Kernkraftwerke, Hunderte von Fernsehprogrammen und Coca-Cola verfügt? Sind die Tibeter kulturell unterentwickelt, weil sie den Buddhismus praktizieren und für sie Demut, Friedfertigkeit und Mitgefühl höher zählen als territoriale Selbstbehauptung oder militärische Schlagkraft? Die Art und Weise der Energietransformation bestimmt die Richtung der kulturellen Entwicklung. Diese Entwicklung jedoch mit Adjektiven wie hoch oder niedrig zu bewerten, setzt eine Meßlatte voraus, die sich nur an bestimmten Parametern kultureller Entwicklung orientiert (zum Beispiel den verfügbaren Möglichkeiten materieller Bedürfnisbefriedigung), während andere Faktoren, wie ethische Haltungen und moralische Standards, unberücksichtigt bleiben.
Je nachdem, in welcher Weise die Menschen die Energieströme ihrer Umwelt nutzen und für ihre Zwecke transformieren, bilden sich unterschiedliche Formen menschlicher Naturaneignung heraus. Im historischen Rückblick gesehen, haben die beiden Strategien der Nischenexpansion bzw. Nischenanpassung zur Herausbildung jeweils spezifischer Technologien geführt. Diese Formen bildeten sich auf der Basis entsprechender Ressourcenvorkommen und eingebettet in ein System religiöser und magischer Weltanschauungen. Entsprechend der Abfolge in der historischen Entwicklung wird zunächst zwischen Jäger- und Sammlergesellschaften einerseits und Ackerbaukulturen, Hirtenvölkern und Viehzüchtern andererseits unterschieden. Beide Lebensstrategien entfalteten sich auf der Grundlage jeweils unterschiedlicher Verfügbarkeiten lebensspendender Energie. So entwickelten sich Jäger- und Sammlerkulturen auf der Basis knapper, aber gut vorhersagbarer Ressourcen, die jedoch räumlich und zeitlich ungleich verteilt sind. Ackerbaukulturen hingegen entstanden auf der Grundlage dichter und gut vorhersagbarer Ressourcen. Mit der Entwicklung des Ackerbaus wird der Boden zum Hauptexistenzmittel der Menschen. Seine Nutzung ermöglicht die Erschließung und Bildung gewaltiger Energiereserven. Die Eigentumsverhältnisse an Land und Boden werden dabei recht schnell zu Steuerungsinstrumenten im energetischen Austauschprozess dieser Gesellschaften. Eine typische, nachhaltige Form einer Ackerbaukultur ist die auf der gezielten Lenkung hydraulischer Energien durch kollektive Arbeit basierende Asiatische Produktionsweise , die hier deshalb auch ausführlicher beschrieben wird. Auf der Basis von Ackerbaukulturen kommt es zu breitgefächerten kulturellen Entwicklungen: Alphabet, Kalender und Schreibkunst. Zusammen mit der Verfeinerung der Technik (unter schrittweiser Eliminierung ihrer ursprünglich magischen Elemente) entstehen schließlich immer komplexere Möglichkeiten, energetische Potentiale zu erschließen, zu speichern und effektiver zu nutzen. Es entfalten sich Handwerke, Spezialisierungen und gesellschaftliche Arbeitsteilung. Aus Marktplätzen wachsen die ersten Städte.[125]
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