Es ist das Einzige, auf das er sich konzentrieren kann. Immer wieder wird das rot-gelbe Licht hinter Pauls Lidern intensiver, hier und da ist die Hitze, die an Haut und Haaren leckt, kaum aushaltbar, aber egal was, Paul setzt immer wieder einen Schritt vor den anderen. Manchmal krallen sich Felix’ Finger fester in seinen Arm und hier und da wimmert Felix neben ihm unverständliche Wortfetzen. Irgendwann scheint es Paul, als würden die Schritte leichter, als würde die Hitze um ihn herum einer angenehmen Wärme weichen, und der Wärme folgt, wieder ein wenig später, eine Kühle. Ja, es wird fast schon kalt um ihn, auch das rote Licht hinter seinen Lidern weicht schlagartig der Dunkelheit. Felix Fingernägel lösen sich aus seinem Arm und Pauls Stütze klappt abrupt darauffolgend nach unten. Durch den plötzlichen Stützverlust bricht auch Paul zusammen, seine Knie schlagen auf dem Boden auf, sein Oberkörper kippt nach vorne und zum zweiten Mal an diesem Tag verliert er das Bewusstsein.
Es ist schwer gewesen. Felix kann im Nachhinein auch gar nicht sagen, wie die Situation in der Werkshalle so plötzlich außer Kontrolle geraten konnte. In einem Moment hatte Paul mit seiner Rede alles im Griff und im anderen Moment brannte ein großer Teil der Werkshalle lichterloh in Flammen. Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass, nachdem die Arbeiter die Treppe gestürmt haben und in die oberen Stockwerke eingedrungen sind, nichts mehr so ist, wie er es kennt. Er ist auch mehr als nur entsetzt über das Bauverbot und den damit zusammenhängenden Produktionsstopp, er ist auch sauer und hätte am liebsten die ganze Welt dafür verantwortlich gemacht, er hätte genauso gerne irgendetwas Greifbares kleingehackt, aber dass es so weit kommen würde, nein, damit hat niemand rechnen können. Die Meute, die die Treppe stürmt, sind alles Menschen, mit denen Felix jahrelang zusammengearbeitet hat, und von einem Moment auf den anderen verwüsten sie die Einrichtung, prügeln, stehlen und zündeln. Ist es das, was Unwissenheit und Ungerechtigkeit mit Menschen macht? Felix weiß es nicht. Nachdem er aber nach dem groben Sturz auf die Treppe zu sich kommt, sieht er genau das überall um sich herum.
Er reibt sich seinen schmerzenden Ellbogen, Kopf und Rücken, streckt die Gelenke und versucht die Verspannung aus seinem Nacken zu lösen, die sich durch das Nach-hinten-Fallen und den harten Aufprall festgesetzt haben. Dann steht er auf und beäugt die komplett leere Werkshalle. Keiner ist da. Das hat Felix noch nie gesehen, normalerweise laufen die Maschinen und Roboter Tag und Nacht und selbst während des Schichtwechsels alle neun Stunden bleiben die Maschinen nicht stehen. Doch jetzt läuft keine einzige Maschine und kein Einziger seiner Kollegen bevölkert die Halle. Hinter ihm zerspringt eine Glasscheibe, dem Klirren folgen ein freudiges Lachen und der dumpfe Schlag eines größeren Gegenstands. Als hätte dieses Geräusch seine Sinne geschärft, hört er jetzt auch die Rufe der anderen, die aus den oberen Büroräumen kommen. Hastig und mit großen Sprüngen eilt er mit seinen langen Beinen die Stufen nach oben und betritt das Stockwerk, in dem auch Paul zuvor verschwunden ist. Vor seinen Augen tobt das reinste Chaos, angsterfüllt über die Situation bleibt er in dem Gang stehen und erstarrt durch den Schock des Anblicks. Das große Kopiergerät liegt neben der Kaffeemaschine in einem Scherbenhaufen, der wohl von der Glasscheibe des Aufenthaltsraums kommt. Zwei Männer, die normalerweise zwei Stationen vor Felix arbeiten, treten auf den Kopierer ein, der als solcher kaum noch zu erkennen ist. Unter seinen Schuhen knirscht das Glas, das überall im Flur liegt. „Mending! Komm her und hilf uns die Faxgeräte zu holen“, ruft ihm einer der Männer zu. Felix, der sich erschrocken aus seiner Erstarrung löst, starrt angeekelt in Richtung der Männer, dreht sich auf dem Absatz um und rennt wortlos die zweite Treppe zu den Büros nach oben. Hier ist es fast noch schlimmer als im Gang zuvor, offenbar hat die Meute am Flur zuvor ihren Spaß verloren und begonnen die oberen Büroräume zu zerfetzen. Einige der Frauen, die sonst in der Lackiererei arbeiten, tragen den schweren, klobigen Schreibtisch aus Pauls Büro und versuchen ihn, unter tosendem Beifall, die Treppe hinunterzuschieben, die Felix gerade nach oben gekommen ist. Schnell weicht er dem schweren hölzernen Schreibtisch aus, der mit einem gewaltigen Poltern die Treppe heruntersegelt. In Felix beginnt Hass zu brodeln. Es ist purer Hass, der sich in Felix’ Körper ausbreitet. Sollten die sich doch an ihren eigenen Sachen vergreifen. Wütend packt er eine der Frauen, um sie zur Rede zu stellen, doch noch bevor er seinem Ärger Luft machen kann, segelt eine Faust gegen seine Schläfe. Er taumelt. Der Schmerz, den sein Körper vorausschickt, tritt schneller ein als die Erkenntnis, was gerade geschehen ist. Die Frauen und Männer um ihn herum schreien und jubeln, als er zu Boden geht. „Das hast du jetzt davon, Felix, wenn du immer mit den Obrigkeiten in die Pause gehst.“ Ein heftiger Tritt fährt in Felix’ Magengrube und lässt ihn sich auf dem Boden krümmen. „Na Felix, wie gefällt dir das? Jetzt ist nicht mehr der große, starke Paul Barens da, der dich beschützen wird, was?“ Ein zweiter Tritt folgt und dem ein dritter und vierter. Felix’ Kopf dröhnt und irgendetwas in ihm schaltet auf Automatik. Er schließt die Augen und lässt es geschehen. Doch nachdem der fünfte Tritt sein Schienbein trifft, hören die Schreie plötzlich auf, es scheint, als wäre einer aus der Meute hervorgetreten, um für Felix einzuspringen, als wäre einer gegen das, was da gerade geschieht, und würde nicht nur zusehen und es geschehen lassen. Die Kerle, die zuvor noch auf Felix eingedroschen haben, lassen von ihm ab und drehen sich in die Richtung, aus der der Einwand gekommen ist. Es folgen einige hitzige Worte, die Felix über das Dröhnen in seinem Kopf nicht verstehen kann. Dann ein wildes Wortgefecht und ehe er sich versieht, liegt er inmitten einer riesigen Schlägerei. Panisch beginnt er sich zwischen der trampelnden Horde nach vorne zu ziehen, immer ein kleines Stück weiter, ganz langsam, ganz vorsichtig. Hier und da tritt ihm jemand auf die schmerzenden Finger oder fällt versehentlich über ihn, aber irgendwann, nach einer schieren Ewigkeit, hat Felix die blaue Tür erreicht, durch die Paul früher am Tag mit dem zerknüllten Brief von Dukjon gerauscht ist. Mit zitternden, gekrümmten Fingern lässt er sie vorsichtig und so leise wie möglich ins Schloss fallen, lehnt sich mit pochendem Gesicht gegen sie, um sie wenigstens mit seinem Gewicht zuzuhalten, und hofft, so stark er kann, dass er als Einziger dieses Versteck wählen wird. Ihm wird schwarz vor Augen, der Raum um ihn herum beginnt sich zu drehen, schneller und schneller, bis er es nicht mehr schafft seinen Magen zurückzuhalten. Er lehnt sich zur Seite, eine Hand in der Magengegend, die andere zur Stütze auf den Boden, und erbricht sich. Nach der kurzen Erleichterung, die darauffolgt, überkommt ihn die Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die so bleiern auf seine Augenlider drückt, dass es unmöglich scheint sich gegen den Drang zu wehren, die Augen nicht doch für einen kurzen Moment zu schließen. Kurz bevor sein Körper sich krampfhaft nimmt, nach was er verlangt, denkt Felix noch das Adrenalin lässt nach, doch dann ist er bereits zur Seite gekippt und fällt in einen unruhigen Schlaf, der wenig Erholung bringen soll.
Ist es der stechende Qualm oder dieses erschreckend laute Geräusch? Er kann es nicht sagen, aber irgendetwas reißt ihn aus seinem Schlaf. Abrupt stemmt er sich vom Boden hoch und stellt sich auf seine Beine. Sein Körper, der auf das unsanfte Erwachen und das damit einhergehende plötzliche Erheben nicht vorbereitet ist, schickt Felix sogleich die Quittung. Seine Augen rollen nach oben, ihm wird wieder schwarz vor Augen, sein Magen krampft sich schmerzend zusammen und versucht sich erneut zu entleeren. Felix hustet die Galle auf den Boden des Büros, mit einer Hand hält er sich an der Kleiderstange fest, die ohne Pauls Jacke erstaunlich viel Stabilität bietet. „Scheiße!“, ruft er. „Verdammte Sch…“ Er verstummt, irgendetwas stimmt nicht, im Flur ist es still, viel zu still für Felix’ Geschmack. Er stolpert leicht hinkend auf den mit Rauch gefüllten dunklen Flur und fällt beinahe über den Körper, der regungslos vor der Tür am Boden liegt. Schockiert beugt er sich zu ihm herunter. Auf den ersten Blick sieht er unverletzt, beinahe schlafend aus, wenn da nicht das viele Blut wäre, das aus seinem Rücken dringt und von einer Wunde stammen muss, die Felix nicht lokalisieren kann. Vorsichtig tippt Felix dem Mann mit seinem Zeigefinger auf die Wange und fährt erschrocken zur Seite. Die Wange des Mannes ist trotz der Hitze des Flurs eiskalt. Felix, der sich konzentriert versucht zusammenzureißen, schiebt den Arm des auf dem Rücken liegenden Mannes unter seinen Bauch und zieht dann von der anderen Seite kraftvoll an seinem Handgelenk. Dank Hebelwirkung rollt der Bewusstlose erst zur Seite, dann auf seinen Rücken. Seine Augen sind merkwürdig aufgerissen. Einer Vorahnung folgend schiebt Felix Zeige- und Mittelfinger unter das Kinn des Mannes und tastet nach seinem Puls. Vergebens greift er auch nach Schläfe und Knöchel, doch auch dort fühlt er nicht das erhoffte Pochen. Die Erkenntnis seiner Informationen folgt sogleich und lässt Felix gefrieren. Der Mann hat keinen Puls und der Körpertemperatur nach ist das schon eine ganze Weile so. Wieder krampft sich Felix’ Magen unangenehm zusammen, dieses Mal widersteht er aber dem Bedürfnis sich zu übergeben und presst sich stattdessen eine Hand auf den Mund. „Hilfe! Hilfe, ich brauche Hilfe!“, schreit er in den dunklen Rauch hinein, so laut, dass er fühlt, wie seine Stimmbänder beben. Er schreit weiter, noch lauter als zuvor, aber keiner kommt die schmale Treppe nach oben, keiner wird ihm helfen. Keiner. „Okay Felix, behalte die Nerven, es wird keiner kommen, aber hey, egal, wer braucht schon Hilfe? Ich? Nein. Ich brauche …, ich brauche …, ja ich brauche Licht“, wispert er hysterisch zu sich selbst. Vorsichtig erhebt er sich und läuft mit dem Blick zum Boden gerichtet den Flur entlang, bis er die schmale Treppe erreicht. Mit zitternden Knien, die bei jedem Schritt drohen unter seinem Gewicht nachzugeben, nimmt er Stufe für Stufe, bis ihn der klobige Schreibtisch am Weitergehen hindert. Der untere Flur ist noch dichter vom Rauch durchzogen und schickt immer wieder dicke Rauchwolken über Felix’ Kopf hinweg den Treppenaufgang nach oben. Mit seinen Händen stützt er sich bedacht auf den Schreibtisch und rüttelt einige Male fest an ihm. Er bewegt sich keinen Zentimeter, er bleibt fest eingekeilt zwischen Holzgeländer und Wand. Langsam und immer noch skeptisch zieht er seine Knie auf die schräge Tischplatte und lässt sich langsam über die akten- und papierlose Platte gleiten. Auf der anderen Seite angekommen, versucht er auf den letzten Stufen Halt zu gewinnen und betet inständig zu einem Gott, an den er nicht glaubt, dass Paul seine seit Jahren gleiche Ordnung nicht geändert hat. Mit schweißnassen Fingern und halbwegs stabilem Stand greift er zu der schweren Holzschublade und zieht sie mit einem kräftigen Zug zu sich heran. Mit einem Scheppern folgt sie dem Zug und kracht, dank Felix’ flinken Reflexen, nicht auf seine Füße, sondern auf die letzte Treppenstufe. Schnell, als könne ihm der Inhalt entkommen, beugt sich Felix zu ihr herunter und kramt einige Sekunden lang in der Unordnung der Schublade, bis er findet, wonach er gesucht hat. Die kleine schwarze Taschenlampe, die er zum Vorschein bringt und die den Sturz von der Treppe glücklicherweise überlebt hat, klemmt er sich zwischen die Zähne, um die Hände weiter frei zu haben. Mit Bedacht klettert er zurück über den Schreibtisch und folgt dem Treppengeländer nach oben.
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